Zeitschrift für Phytotherapie 2020; 41(01): 1-3
DOI: 10.1055/a-0972-2344
Editorial

Aufbruch in ein neues Jahrzehnt

Karin Kraft

Der Beginn eines neuen Jahrzehnts ist ein guter Zeitpunkt für Analysen und die Entwicklung von neuen Strategien. Dass in Deutschland das Angebot an Nahrungsergänzungsmitteln (NEM) immer weiter zunimmt, ist bekannt. So wurden im Jahr 2018 ca. 6000 NEM beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit neu angezeigt, die Tendenz ist über die Jahre weiter steigend. Dagegen sind bekanntlich Neuzulassungen von Phytopharmaka in Deutschland bzw. in der EU infolge hoher gesetzlicher Auflagen seit Jahren Raritäten. Da NEM weder Zulassungsverfahren unterliegen noch Festlegungen zu zugesetzten Stoffen und deren Höchstmengen in der Nahrungsergänzungsmittel-Verordnung existieren, obliegt den Landesüberwachungsbehörden die Aufgabe, die Einstufung eines Produktes als NEM einschließlich Wirksamkeit und Sicherheit in jedem Einzelfall zu bewerten sowie bestehende Mängel zu ahnden. Für gerichtsfeste Probenahmen aus Internetangeboten fehlt zudem die Rechtsgrundlage [1]. Den NEM werden nun zunehmend auch Stoffe zugesetzt, die bislang nur in Arzneimitteln verwendet wurden und / oder bei denen Zweifel an ihrer Sicherheit bestehen. Sie enthalten oft multiple Vitamine und Nährstoffe, was zu unerwünschten Interaktionen der Nährstoffe und Vitamine untereinander führen kann; die von den Fachgesellschaften empfohlenen Höchstdosen werden oft überschritten. Die wenigen Maßnahmen des Gesetzgebers zum Verbraucherschutz sind damit bislang alles andere als erfolgreich. Von den Verbraucherzentralen wurden zwar Warnungen vor gefährlichen Inhaltsstoffen und Checklisten publiziert, die es der Bevölkerung ermöglichen sollen, unseriöse Werbung und entsprechende Präparate zu identifizieren [1]. Dennoch wurden im Jahr 2018 225 Millionen Packungen NEM verkauft, der Umsatz betrug 1,44 Milliarden Euro, Tendenz steigend. Nahezu jeder dritte Deutsche nimmt inzwischen derartige Präparate ein [2].

Ärzte und Apotheker warnen hier schon seit längerem. So weisen z. B. ärztliche Fachgesellschaften darauf hin, dass nur wenigen Personengruppen, etwa Schwangeren oder Veganern, die Einnahme von bestimmten NEM zu empfehlen ist, weil hochrangig publizierte Studien nahelegen, dass NEM für die Primärprävention im Allgemeinen nutzlos sind [2]. Ein systematisches Review aus 49 Studien mit 290 000 Teilnehmern ergab, dass die Einnahme von NEM mit Vitamin C, D oder K, Magnesium, Selen oder Zink oder mit Omega-3-Fettsäuren weder zur Primärprävention von Krebs oder Herz-Kreislauf-Leiden beiträgt noch das Leben verlängert [3]. Auch in einer sehr großen Kohortenstudie fanden sich positive Effekte für Vitamine und Mineralstoffe nur dann, wenn sie aus der Nahrung, nicht aber, wenn sie aus NEM stammten [4]. In einer aktuellen Umfrage des Marktforschungsunternehmens Aposcope befürworteten 91 % der 502 befragten Apotheker und PTA eine staatliche Zulassungspflicht für NEM einschließlich einer behördlichen Sicherheitsprüfung. Die ganz überwiegende Mehrheit stimmte zudem für rechtsverbindliche Höchstmengen, die es dem Gesetzgeber ermöglichen würde, bestimmte Mittel zu kennzeichnen oder vom Markt zu nehmen [5].

Allerdings stehen diesen Informationen und Forderungen auch Geschäftsinteressen und möglicherweise Wissenslücken entgegen. So maßen immerhin 76 % der von Aposcope befragten Apotheker und PTA dem Geschäft mit NEM eine eher hohe bis sehr hohe Bedeutung bei, 81 % betrachteten die Mittel als sinnvolle Ergänzung zur allgemeinen Ernährung [5]. Etliche Ärzte scheinen gegenüber dem Einsatz von NEM zumindest bei verschiedenen Erkrankungen recht aufgeschlossen zu sein. So waren z. B. von den 207 Ausstellern bei der Medizinischen Woche in Baden-Baden im Jahr 2019 immerhin 64 als Hersteller von NEM zu identifizieren, nur 12 Aussteller präsentierten vor allem Phytopharmaka, 18 Aussteller andere Arzneimittel. Die ganz überwiegende Mehrzahl der Ärzte hat jedoch weder Kenntnisse über Wirksamkeit und Verträglichkeit von NEM, noch weiß sie, wo und wie sie Nebenwirkungen von NEM anzeigen könnte [6], [7]. In einer aktuellen Publikation aus Italien zur Anwendung von NEM hatten zudem 40,7 % der Medizinstudierenden, 44,8 % der Teilnehmer gesundheitsorientierter Studiengänge und 32,6 % der Studierenden aus anderen Studiengängen mindestens ein NEM aktuell oder zuvor eingenommen, davon fast die Hälfte aufgrund einer nicht wissenschaftlich basierten ärztlichen Empfehlung. Die Autoren fordern daher die sofortige Implementierung einer wissenschaftlichen Ausbildung zu NEM in medizinische und gesundheitsorientierte Studiengänge sowie eine strikte Regulierung bei deren Kennzeichnung und Bewerbung [8].

Für den konstruktiven Umgang u. a. mit derartigen Problemen hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon vor einigen Jahren eine Strategie erarbeitet, die u. a. neben regulatorischen Eingriffen auch Maßnahmen im Bereich von Aus- und Weiterbildung zu traditioneller und komplementärer Medizin (T&CM) (NEM sind Teil der komplementären Medizin) vorsieht. Der Zwischenbericht „WHO Global Report on Traditional and Complementary Medicine 2019“ erschien Ende September 2019 [9]. Danach verfügen infolge der Umsetzung dieser Strategie inzwischen 98 der 194 Mitgliedsstaaten über eine nationale Entwicklungsstrategie für T&CM, 107 Länder betreiben ein nationales Regierungsbüro für T&CM, 79 haben ein nationales Programm für T&CM erarbeitet. 93 Länder verfügen über ein nationales Expertenkomitee und 75 Mitgliedsstaaten über mindestens ein nationales Forschungsinstitut für T&CM [9].

Betrachtet man die Angaben zu den Aktivitäten zur Umsetzung der Strategie durch die einzelnen Mitgliedsländer, gehört Deutschland im globalen und sogar auch im europäischen Vergleich zu den Schlusslichtern. Im betreffenden Abschnitt zu Deutschland ist zwar die Regulierung von T&CM-Arzneimitteln einigermaßen ausführlich dargestellt, ansonsten sind die Informationen aber sehr dürftig bzw. veraltet [9]. Die Anfragen der WHO von 2018 zu nationalen Gesetzen oder Regulierungen und einem nationalen Expertenkomitee für T&CM wurden überhaupt nicht beantwortet, mit „Nein“ beantwortet wurden die Fragen nach einem nationalen Programm, einem nationalen Regierungsbüro und einem nationalen Forschungsinstitut für T&CM [9]. Ein ähnlich niedriges Aktivitätsniveau zeigen nur weitere 16 Staaten der insgesamt 53 Mitgliedsstaaten umfassenden europäischen Region: Albanien, Andorra, Aserbeidschan, Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Tschechien, Finnland, Island, Irland, Malta, Montenegro, Niederlande, Rumänien, Slowenien, Spanien und Weißrussland. Frankreich und Griechenland haben die Anfrage komplett nicht beantwortet. Zum Vergleich: Von den 11 Mitgliedsstaaten in der südostasiatischen Region zeigt nur Timor dieses niedrige Niveau, von den 27 Ländern der westpazifischen Region sind es die Cook-Inseln, Kiribati, Niue, Palau, Samoa, Solomon-Inseln und Vanuatu, von den 47 afrikanischen Mitgliedsstaaten die Länder Zentralafrikanische Republik, Kamerun, Eritrea, Namibia und Niger. Infolgedessen stellt die WHO in ihrem Bericht für die europäische Region zu Recht fest: „Indicators such as national policies, offices, programmes and research institutes for T&CM lag significantly behind the global averages“ [9]. Hier gibt es also für die zuständigen Ministerien noch viel zu tun. Immerhin scheint aber zumindest unsere Bundeskanzlerin diese Botschaft wahrgenommen zu haben, denn sie hat im November 2019 ein „memorandum of understanding“ zur gemeinsamen Forschung bei Ayurveda (in Deutschland komplementäre Medizin) mit dem indischen Ministerpräsidenten unterzeichnet.

Ein nur scheinbar gänzlich anderes Problem spricht diese Ausgabe der ZPT an. Ich überlasse es aber meinen Lesern, die Gemeinsamkeiten zu suchen. Bekanntlich wurden seit vielen Jahrzehnten bestimmte pflanzliche Drogen bei der Indikation „funktionelle Störungen der Leber und der Gallenwege“ verwendet (vergl. den Übersichtsartikel von I. Zündorf und R. Fürst). In den letzten Jahren wurden nun viele pathophysiologische Zusammenhänge aufgeklärt und neue Erkrankungen definiert. Besonders bedeutsam ist dabei die nichtalkoholische Fettleber (NAFL), die bei ca. jedem zweiten Erwachsenen mit Adipositas vorliegt, bei zusätzlichem Typ-2-Diabetes sind es 70 %. Die weltweite Prävalenz wird auf 1,8 Milliarden Menschen geschätzt, auch Kinder sind bereits davon betroffen. Komplikationen der NAFL sind die nichtalkoholische Steatohepatitis (NASH), die Zirrhose und das hepatozelluläre Karzinom. NAFL und NASH gehen mit einer erhöhten Inzidenz von Typ-2-Diabetes und kardiovaskulärer Erkrankungen einher, andererseits sind NAFL und NASH ihrerseits Diabeteskomplikationen [10]. Der Verlauf kann individuell erheblich variieren: Bei einem Drittel der Patienten mit NAFL ist die Fibrose progredient, andererseits kann ca. jeder Fünfte mit einer Regression der Fibrose rechnen. Das pathophysiologisch komplexe Geschehen wird von genetischen, Umwelt- und intrinsischen mikrobiellen Faktoren beeinflusst [10]. Im Behandlungsregime stehen Lebensstilmodifikationen an erster Stelle: Die Zufuhr rasch resorbierbarer Kohlenhydrate und gesättigter Fettsäuren muss reduziert, die körperliche Aktivität gesteigert werden. Um jedoch die hepatische Inflammation und Fibrose zurückzudrängen, ist eine Gewichtsreduktion um mehr als 10 % erforderlich. Diese ist erfahrungsgemäß nur bei ca. 15 % aller Patienten und selten langfristig realisierbar.

Seit einiger Zeit werden Substanzen zur Behandlung der NASH entwickelt, die aufgrund ihrer unterschiedlichen, sich ergänzenden, allerdings nicht sehr ausgeprägten Wirkungen sehr wahrscheinlich miteinander kombiniert werden dürften. Zu nennen sind hier GLP-1-Analoga (Glucagon-like Peptide 1 reduziert die Insulinresistenz) und Farnesoid-X-Rezeptor (FXR)-Agonisten. Der im Ileum, der Leber, den Nebennieren und den Nieren exprimierte nukleäre Rezeptor FXR reguliert die Synthese von Gallensäuren aus Cholesterin, steigert deren Resorption im Ileum und fördert die Produktion von FGF-19 (Fibroblast Growth Factor-19), der das GLP-1 aktiviert und indirekt die Neusynthese von Gallensäuren hemmt. Der FXR hemmt zudem die Triglyzeridsynthese und stimuliert die β-Oxidation freier Fettsäuren über die Aktivierung der PPAR-α (Peroxisome Proliferator-activated Receptor), deren Agonisten ebenfalls geprüft werden. Hinzu kommen ACC-Hemmer (Acetyl-Coenzym-A-Carboxylase A ist ein Schlüsselenzym der Fettsäuresynthese) und Agonisten des in der Leber und im Gehirn exprimierten Schilddrüsenhormon-Rezeptors TRβ1, die die metabolische Aktivität erhöhen, d. h. LDL-Cholesterin vermehrt abbauen [10]. Da diese Medikamente primär für die Therapie der NASH eingesetzt werden sollen, dürfte es sich lohnen, das Potenzial pflanzlicher Drogen, die z. B. für die Behandlung von Erkrankungen der Leber, der Gallenwege und des Fettstoffwechsels eingesetzt werden, bei NAFL systematisch zu prüfen, da hier bislang keine etablierten medikamentösen Therapien verfügbar sind. Für silibininhaltige Extrakte existieren bei NASH bereits einige klinische Studien, die im Artikel von D. Jobst dargestellt werden.

Ich wünsche unseren Lesern und der Phytotherapie ein erfolgreiches Jahrzehnt.

Ihre Karin Kraft



Publication History

Article published online:
27 February 2020

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