Nervenheilkunde 2019; 38(12): 961
DOI: 10.1055/a-0952-7184
Gesellschaftsnachrichten
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Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie e. V.

Tom Bschor
,
Anja M. Bauer
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Publikationsdatum:
17. Dezember 2019 (online)

Zur Psychologie und Psychopathologie göttlicher Erscheinungen

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Abb. 1 Göttliche Erscheinungen – tödliches Glück (Maler: Franz Xaver Simm, 1853 bis 1918)

Im religiösen Mythos bedeutet die Erscheinung der Gottheit für den Menschen das höchste Glück aber auch die größte existenzielle Bedrohung. Sie ereignet sich als Klimax und Peripetie eines Zustands maximaler innerer Anspannung und Erregung. Psychologisch betrachtet wird hier ein innerpsychisches Geschehen nach außen projiziert und es droht die Vernichtung des Ich, seiner Struktur, Grenzen und Funktionsfähigkeit. Angst und Glück herrschen in diesem Moment gleichzeitig vor. Man erinnere sich an die nächtliche Szene in Goethes Faust. „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkünde euch große Freude … denn euch ist heute der Heiland geboren ..!“ lassen Lukas und Luther den Engel sprechen. Damit die Gottheit nicht nur sich, sondern auch einen Inhalt offenbaren kann, muss der Prophet der Erscheinung standhalten, d. h. das Ich muss stark genug sein, noch in diesem ekstatischen Zustand einen Inhalt zu erfassen.

Gott erscheint Saulus vor Damaskus unerwartet. Faust nutzt seinen Erregungszustand dazu, das Erscheinen der Gottheit heraufzubeschwören. Christen bereiten sich im kollektiven Ritus durch Katharsis, d. h. durch reinigendes Fasten und läuterndes Beten auf das Erscheinen ihres Gottes vor, seine Geburt, seine Auferstehung. Er erscheint in der Nacht und nur eine stille Nacht kann eine heilige werden. Überwältigend ist die Erscheinung immer, gleichgültig ob sie unerwartet geschieht oder erhofft oder heraufbeschworen wird. Die Erscheinung der Gottheit ist ein Mythologem – weil sie ein besonderes Phänomen der menschlichen Psychologie ist. Sie ist erlebbare Wirklichkeit und legitimiert sich durch ihre Qualität. Auch bei dem kontrollierten kontemplativen und dem gedankenarmen meditativen Absenken der psychischen Energie bzw. des Bewusstseinsniveaus gerät das Ich außer sich. Hier werden seine Grenzen aber nicht gesprengt, sondern sie werden durchlässig. In diesem euphorisch-verzückten Zustand fühlt sich der Mensch eins mit Gott und der Welt. Geschieht die Absenkung ungewollt und unkontrolliert, geht sie zu weit, entsteht auch hier Angst. Glück und Angst sind ekstatische Zustände. Sie treten außerhalb des normalen Energie- bzw. Funktionsniveaus des Ich auf, darüber und darunter. Somit sind sie keine Stimmungen, Gefühlsqualitäten oder Affekte des Ich. Die Alltagssprache macht hier allerdings keinen Unterschied.

Dass die Angst in der menschlichen Psychologie dem Überleben dient, ist ein tröstendes und ermutigendes Narrativ. Das meiste, was über die Angst gesagt wird, meint eigentlich die Furcht. Wer sagen kann wovor er Angst hat, fürchtet sich vor etwas. Angst ist unsäglich. Mit der begrifflichen Schärfe ist es oft nicht weit her. Die Begegnung mit der Gottheit ist ein Wandlungsgeschehen. Aus Saulus wird Paulus. Bleibt die Wandlung aus, hat keine Begegnung stattgefunden oder der Zustand war schon psychotisch. Der Unterschied zwischen dem religiösen Erleben und der Psychose ist nur ein gradueller. Auch bei der Begegnung mit der Gottheit beginnt das Geschehen mit dem Trema, auf das die Apophänie folgt. Nur die Apokalypse ist keine. Auch wenn die Begegnung mit der Gottheit für den Menschen lebensgefährlich, d. h. auch wenn der psychosenahe Erregungszustand für das Ich existentiell bedrohlich ist, wird sie angestrebt. Denn allein die Begegnung mit der transpersonalen kollektiven Psyche und ihren archetypischen Inhalten verleiht der menschlichen Existenz Sinn und Wert. Nur sie weist über die beschränkte und begrenzte individuelle Existenz hinaus.

Ist Weihnachten also gefährlich? Nein, nicht mehr! Das Ich ist im Verlauf der Phylo- bzw. Ontogenese so stark geworden, dass es gegen göttliche Offenbarungen gefeit ist. Der moderne Mensch sehnt sich nach Spiritualität und Transzendenz. Er sucht nach seinem Bethel, fährt nach Indien und Taizé oder pilgert vielleicht doch nach Santiago. Aber spätestens am Wallfahrtsort müsste er das letzte Stück des Einweihungsweges allein finden und gehen. Er führt nach innen. Der Verlust an Spiritualität bzw. Inspiration wird auch in der modernen Kunst deutlich. Wer ohne zu überlegen loslegt, hält sich für inspiriert. Oder es wird sich irgendetwas genialistisch ausgedacht. Da droht kein Wahnsinn mehr. Genialität allerdings auch nicht …

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Dr. med. Heinz-Dieter Hartung
Foto: Vivian Hirt