Nervenheilkunde 2019; 38(10): 765-777
DOI: 10.1055/a-0949-1265
Geist & Gehirn
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Flow

Vom Erleben über die Neurobiologie zur Triebfeder von Kultur
Manf Spitzer
Further Information

Publication History

Publication Date:
15 October 2019 (online)

Zusammenfassung:

Mit dem Wort „Flow“ wird seit Mitte der 1970er-Jahre eine positiv konnotierte Form des Erlebens körperlicher oder geistiger Arbeit bezeichnet, das sich einstellt, wenn die Arbeit nicht zu einfach und nicht zu schwierig und man ganz bei der Sache (und nicht bei sich selbst) ist. Experimentelle Studien zum Flow-Erleben mittels funktioneller Bildgebung aus der Ulmer Psychiatrie um die Arbeitsgruppe von Georg Grön und Martin Ulrich konnten über die Jahre hinweg zeigen, dass das Flow-Erleben mit einem ganz bestimmten Muster zentralnervöser Aktivierungen und Deaktivierungen einhergeht: Aktiviert sind sensorische Verarbeitung sowie das linke Putamen und der linke inferiore frontale Kortex, wohingegen der mediale präfrontale Kortex (MPFC) beidseits und der Mandelkern deaktiviert sind. Wenn also die Arbeit zum Können „passt“, dann „verliert“ man sich selbst in der Arbeit (deaktiviertes selbstreflektierendes Denken im MPFC), ist angeregt (mittels EDA gemessenes vermehrtes Arousal) und ist zugleich angstfrei (deaktivierte Amygdala). Durch Stimulation (tDCS) des MPFC ließ sich zudem Flow bei Menschen, die diesen Zustand trotz entsprechender Rahmenbedingungen (noch) nicht erreicht haben, fördern. Diese Ergebnisse haben Konsequenzen für eine klarere Einordnung der Symptome (Grübelneigung) und Therapie (Ergotherapie) der Depression und erweitern unser Verständnis von kognitiver Kontrolle, der Rolle von Fehlern beim Lernen, der kulturellen Produktion und Transmission von Wissen sowie der Bedeutung des Informationsbegriffs beim Verständnis von „Leben“.