Neurologie up2date 2020; 03(02): 179-193
DOI: 10.1055/a-0945-2011
Neurorehabilitation

Neglect und Raumorientierung

Michelle Klein
,
Ann-Kathrin Bur
,
Georg Kerkhoff
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Störungen der visuellen Raumorientierung können sowohl als Symptom innerhalb eines übergeordneten Störungsbildes als auch isoliert auftreten. Darüber hinaus beeinträchtigen das Neglectsyndrom und das Balínt-Holmes-Syndrom die Wahrnehmung und Orientierung im Raum. In diesem Übersichtsbeitrag werden die drei Störungsbilder vorgestellt.

Fazit

Take Home Message

Das Nichtbeachten von Reizen verschiedener Sinnesmodalitäten sowie die eingeschränkte Benutzung der kontraläsionalen Extremitäten in der kontraläsionalen Raumhälfte bezeichnet man als Neglect. Die Störung ist meist nach rechtshemisphärischen temporo-parietalen Schädigungen zu finden. Der Neglect kann den ganzen Raum betreffen (raumzentriert), einzelne Objekte (objektzentriert), das Lesen (Neglectdyslexie) oder den eigenen Körper (Body Neglect). Typische Symptome sind das Anstoßen an Hindernissen oder verlängerte Suchzeiten.

Fazit

Take Home Message

Verfügbare Therapieverfahren sollten massiert eingesetzt werden, da sie oftmals erst nach mehreren Therapiesitzungen einen Effekt zeigen. Neben klassischen Stimulationsansätzen bieten sich neuerdings auch Verfahren der Neuromodulation an (s. o., Infobox).

Strategieorientierte Verfahren sind vor allem für den Alltagstransfer wichtig. Eine Kombination aus mehreren Therapieformen verspricht größeren Erfolg, sollte aber nicht exakt gleichzeitig, sondern leicht zeitlich versetzt erfolgen. Zudem empfiehlt sich eine an den Reha-Aufenthalt anschließende ambulante oder teilstationäre Fortsetzung der neuropsychologischen Therapie.

Fazit

Take Home Message

Räumlich-perzeptive Störungen betreffen elementare Sehleistungen. Hierzu gehören Defizite der subjektiven Hauptraumachsen, der Orientierungsschätzung, der Längenschätzung, der Distanzschätzung, der Geradeausrichtung und der Linienhalbierung sowie eine gestörte Positionswahrnehmung. Diese Defizite führen in Kombination zu einer fehlerhaften Eigenbewegung im Raum und zu einer gestörten Interaktion mit externen Objekten. Kritische Regionen für das Auftreten eines solchen Symptomkomplexes sind primär rechtshemisphärisch im parieto-okzipito-temporalen Bereich zu finden.

Kernaussagen
  • Raumorientierungsstörungen können sich auf vielfältige Weise manifestieren. Die wichtigsten zu dem Symptomkomplex gehörenden Störungen sind

    • der Neglect,

    • visuelle Raumorientierungsstörungen und

    • das Balínt-Holmes-Syndrom.

  • Zugrundeliegende Läsionen können vielfältig sein; die wichtigsten sind die posterior gelegenen Regionen des Okzipital-, Temporal- und Parietallappens. Auch frontale und subkortikale Regionen können beteiligt sein.

  • Als Neglect bezeichnet man das Vernachlässigen der kontraläsionalen Raumhälfte sowie den verminderten Gebrauch der kontraläsionalen Extremitäten. Es werden verschiedene Formen unterschieden: der raumbezogene, der objektbezogene Neglect, die Neglectdyslexie und der Body Neglect; oftmals bei fehlender Krankheitseinsicht (Unawareness oder Anosognosie), was eine detaillierte Selbst- und Fremdanamnese sowie Verhaltensbeobachtung notwendig macht.

  • Visuelle Raumorientierungsstörungen werden in 4 Kategorien eingeteilt: räumlich-perzeptive, räumlich-kognitive, räumlich-konstruktive und räumlich-topografische Störungen. Während räumlich-perzeptive Störungen eher basale visuelle Leistungen betreffen, beziehen sich die anderen 3 Subtypen auf höhere kognitive Leistungen.

  • Mit dem Balínt-Holmes-Syndrom sind verschiedene Symptome assoziiert wie die optische Ataxie, die Simultanagnosie sowie Raumverarbeitungs- und Blickbewegungsstörungen, die als Vollbild gemeinsam oder isoliert auftreten (letzteres meist nach unilateraler Läsion).

  • Der Rehabilitationserfolg wird maßgeblich von der Behandlung der Raumorientierungsstörungen beeinflusst. Die für den Patienten relevanten Alltagsprobleme sollten erfasst, erhaltene Teilfunktionen identifiziert und gezielt werden. Darüber hinaus existieren sowohl Bleistift- als auch computerbasierte Verfahren, um die einzelnen Symptome der Krankheitsbilder nachweislich zu verbessern.



Publication History

Article published online:
13 May 2020

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