Nervenheilkunde 2019; 38(09): 615-617
DOI: 10.1055/a-0928-3204
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Natur – eine Dosis-Findungsstudie

Manfred Spitzer
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Publikationsdatum:
02. September 2019 (online)

Dass Natur positive Auswirkungen auf unsere Gesundheit hat, wird nicht nur von Millionen von Menschen durch das eigene Erleben immer wieder bestätigt, sondern ist mittlerweile auch durch entsprechende wissenschaftliche Studien gut belegt [2]–[4],[12], [13]. Hierzu wird in der Regel ein Maß für die Qualität der Wohnumgebung im Hinblick auf Grünflächen, Parks oder Bäume verwendet, entweder der Prozentsatz solcher Grünflächen (im Englischen spricht man von „green space“) am gesamten Wohngebiet bzw. am gesamten Stadtgebiet (wenn es um die Bedeutung von Natur im urbanen Bereich geht) [5] oder die Entfernung der Wohnung zu solchen Flächen, also nicht deren Größe, sondern deren Erreichbarkeit [8].

Fragt man nach den gesundheitlichen Auswirkungen von Natur, so liegt es jedoch nahe, die in der Natur verbrachte Zeit direkt zu messen, um die angemessene „Dosis“ von Natur zu ermitteln [10], [11]. Schließlich fahren viele Menschen, die in der Stadt leben, ins Grüne. Sie machen sich also aktiv auf in die Natur, vor der sie möglicherweise relativ weit entfernt leben und wohnen. Man kann zwar davon ausgehen, dass Menschen, die im Grünen oder in dessen Nähe wohnen, auch mehr Zeit darin verbringen; um jedoch die Auswirkungen von Natur direkt zu messen, ist die Erfassung der in ihr während der vergangenen 7 Tage verbrachten Zeit letztlich eine unverzichtbare unabhängige Variable.

Die Methodik ist im Grunde die gleiche wie die bei der Erforschung der Auswirkungen körperlicher Aktivität auf die Gesundheit des Menschen [1]. Auch hierbei wird die täglich bzw. wöchentlich mit körperlicher Bewegung verbrachte Zeit mit der subjektiv berichteten Gesundheit bzw. dem Wohlbefinden in Verbindung gebracht. Man fragt nicht „wie weit leben sie von einem Sportplatz entfernt?“, sondern „wie viele Minuten verbringen sie jede Woche mit Joggen?“

Britische Autoren berichteten im Juni 2019 die Ergebnisse einer großen repräsentativen Studie zur in der Natur verbrachten Zeit und der Gesundheit bzw. dem Wohlbefinden von 19 806 erwachsenen Engländern (gemessen in den Jahren 2014–2016). Die Naturexposition wurde in Minuten pro Woche erfasst und wie folgt kategorisiert: 0 min (keine), 1–59 min, 60–119 min, 120–179 min, 180–239 min, 240–299 min sowie > 300 min. Die Gesundheit und das Wohlbefinden der Teilnehmer wurden jeweils dichotom als „gut“ bzw. „schlecht“ erfasst. Zudem wurden die folgenden zusätzlichen Variablen erfasst: Grad der Verstädterung, Begrünung der Wohnumgebung, Grad der Qualität der Umgebung[ 1 ], Feinstaubbelastung, Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Status, Grad der Behinderung, körperliche Aktivität, Arbeitslosigkeit, ethnische Zugehörigkeit, Anzahl der Kinder im Haushalt sowie Hundebesitz.[ 2 ]

Wie die Ergebnisse der Studie zeigten, war eine Aufenthaltsdauer von wöchentlich 2 oder mehr Stunden in der Natur mit einer signifikanten Verbesserung der Gesundheit und (in etwas geringerer Ausprägung) des Wohlbefindens verbunden. In den [ Abb. 1 ] und [2] sind für die in Stunden klassifizierten wöchentlichen Aufenthaltsdauern, jeweils im Vergleich zu keinem Aufenthalt in der Natur ermittelten Wahrscheinlichkeiten besserer Gesundheit und besseren Wohlbefindens (Mittelwerte und 95 %-Vertrauensinterval) zu sehen.

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Abb. 1 Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, jeweils im Verhältnis zu „0 Minuten“, guter oder sehr guter Gesundheit als Funktion der in den letzten 7 Tagen in der Natur verbrachten Zeit in Minuten (nach Daten aus [15], Fig. 1a).
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Abb. 2 Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, jeweils im Verhältnis zu „0 Minuten“, großen Wohlbefindens als Funktion der in den letzten 7 Tagen in der Natur verbrachten Zeit in Minuten (nach Daten aus [15], Fig. 1b).

Die abgebildeten Daten entstammen einer modellierten Analyse, die auch die erwähnten Kontrollvariablen mit einbezog. Bei einfacher Analyse wurde der Effekt der Natur auf Gesundheit und Wohlbefinden schon ab einer Stunde pro Woche signifikant. Nahm man jedoch die weiteren (zum großen Teil gut bekannten) Einflussfaktoren hinzu, hatte der Aufenthalt in der Natur erst ab 2 Stunden wöchentlich einen signifikanten Effekt. Interessanterweise nahm dieser Effekt mit einer weiteren Steigerung der Zeit in der Natur nicht zu, sondern blieb bis 5 Stunden wöchentlich etwa konstant, um bei noch mehr Stunden wieder etwas abzunehmen.

Dieses Ergebnis steht in bemerkenswertem Kontrast zur Tatsache, dass 58,9 % der Befragten (n = 11 668) angaben, in den letzten 7 Tagen gar nicht in der Natur gewesen zu sein. Betrachtet man den Effekt von 2–3 Stunden Zeit pro Woche in der Natur (verglichen mit keiner Zeit in der Natur) im Vergleich zum Effekt anderer Einflussfaktoren, so wird zudem deutlich, dass die Zeit in der Natur auf die Gesundheit einen ähnlich großen positiven Einfluss hat wie ein hoher sozioökonomischer Status, die Qualität der Wohnumgebung oder sportliche Aktivitäten ([ Abb. 3 ]). Im Hinblick auf das Wohlbefinden lagen die Dinge ähnlich: Die Zeit in der Natur wirkte sich auf das Wohlbefinden in einem Maße aus, das vergleichbar war mit den Auswirkungen der Begrünung der Wohnumgebung (höchstes versus niedrigstes Quintil), der Qualität der Wohnumgebung (höchstes versus niedrigstes Quintil) und sportlicher Aktivität (Ausmaß der sportlichen Aktivität entsprechend den Empfehlungen von Gesundheitsexperten versus nicht entsprechend). Nur der Beziehungsstatus (nicht alleinlebend) und ein hoher sozioökonomischer Status hatten einen noch größeren Einfluss auf das Wohlbefinden als die Zeit in der Natur ([ Abb. 4 ]).

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Abb. 3 Erhöhung der Wahrscheinlichkeit guter oder sehr guter Gesundheit als Funktion von wöchentlich 2–3 Stunden versus 0 Stunden Zeit in der Natur (ganz links) im Vergleich zu anderen gemessenen Einflussfaktoren wie der Begrünung der Wohngegend, deren Qualität, des Treibens von Sport gemäß den Empfehlungen der WHO, dem sozioökonomischen Status und dem Leben als Paar oder als Single (nach Daten aus [15], Fig. 3a).
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Abb. 4 Erhöhung der Wahrscheinlichkeit hohen Wohlbefindens als Funktion von wöchentlich 2–3 Stunden versus 0 Stunden Zeit in der Natur (ganz links) im Vergleich zu anderen gemessenen Einflussfaktoren wie der Begrünung der Wohngegend, deren Qualität, des Treibens von Sport gemäß den Empfehlungen der WHO, dem sozioökonomischen Status und dem Leben als Paar oder als Single (nach Daten aus [15], Fig. 3b).

Weitere Analysen zeigten, dass die Effekte der Natur für ältere (über 65 Jahre) und jüngere (unter 65 Jahre) Menschen gleichermaßen galten, ebenso für Männer wie für Frauen und für Menschen mit hohem oder niedrigem sozioökonomischem Status bzw. mit oder ohne Behinderung. Ob man 1-mal pro Woche 2 Stunden oder 2-mal eine Stunde oder 3-mal 40 Minuten in die Natur ging, hatte ebenfalls keinen Einfluss auf die Wirkung.

Die Autoren gehen insgesamt von einer Art Schwelle für die Wirkung von Natur auf den Menschen aus, die bei etwa 2 Stunden liegt; mehr bringt nicht wirklich viel mehr, sagen sie mit Blick auf die Verteilung der gemessenen Werte. Die Größenordnung des positiven Effekts kann sich sehen lassen, liegt er doch im Bereich der gut bekannten positiven Auswirkungen von hohem sozioökonomischem Status bzw. ausreichender sportlicher Aktivität.

Weiterhin diskutieren sie ihre Ergebnisse wie folgt: „Dass die ‚120-Minuten-Schwelle’ auch bei denjenigen Teilnehmern zu finden war, die in wenig begrünten Gegenden lebten, bestätigt zunächst einmal die Bedeutung der direkten Messung des erholsamen Kontakts mit der Natur. Wann immer möglich, sollte diese Messung erfolgen anstatt sich lediglich auf die Messung der Nähe der Wohnung zur nächsten begrünten Fläche als Annäherung an jedwede Naturexposition eines Menschen zu verwenden. Die Leute machen Ausflüge jenseits ihrer lokalen Wohngegend, um erholsame Naturerlebnisse zu erreichen, und auch unsere eigenen Daten zeigen, dass diejenigen Teilnehmer, die in den am wenigsten begrünten Wohngegenden lebten mit einer höheren Wahrscheinlichkeit mehr als 120 Minuten wöchentlich in der Natur verbrachten als diejenigen, die in grüneren Wohngegenden lebten. Fehlende lokale Gelegenheiten stellen mithin keine Barriere für das Erleben von Natur dar. Die Tatsache, dass sich die ‚Schwelle’ auch bei Menschen mit Behinderung oder chronischen Krankheiten zeigte, legt nahe, dass der in unseren Daten gefundene positive Zusammenhang nicht einfach darauf zurückzuführen ist, dass gesündere Leute öfters in die Natur gehen“ [15].[ 3 ]

Die Autoren diskutieren ferner den Einwand, dass der positive Effekt der Natur auf das Konto von körperlicher Ertüchtigung, die oftmals in der Natur erfolgt, gehen könnte. Zwar haben sie „Sport während der letzten 7 Tage“ separat erfasst und konnten so die Effekte dieser Variable aus dem Effekt von „Natur während der letzten 7 Tage“ statistisch „herausrechnen“, und sie konnten auch zeigen, dass die „Schwelle von 120 Minuten pro Woche, ab welcher der Effekt eintritt, auch für die unsportlichen Leute galt. Aber völlig ausschließen konnten die Autoren den Zusammenhang von Natur und Sport nicht, wie sie selbst zugeben: „We were unable to fully untangle these issues“ [15].

Sie geben jedoch mit Recht zu bedenken, dass die japanischen Untersuchungen zum dort sehr beliebten „Waldbaden“, dem Verbringen von Zeit im Wald ohne jegliche sportliche Aktivität, positive Auswirkungen auf die Gesundheit klar gezeigt haben.[ 4 ] Einen psycho-physischen Wirkungsmechanismus (u. a. die Erniedrigung von Blutdruck, Puls und Stresshormonen) hat die Natur also durchaus, und eine Minimaldosis nach der vorliegenden Studie auch. Dass wir Menschen uns dennoch zunehmend von der Natur entfernen, ist für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden ungünstig. Man kann nur hoffen, dass sich der Trend zum Naturdefizit-Syndrom [6] langfristig wieder umkehrt.

 
  • Literatur

  • 1 Barton J, Pretty J. What is the best dose of nature and green exercise for improving mental health? A multi-study analysis. Environ Sci Technol 2010; 44: 3947-3955
  • 2 Cox DT, Shanahan DF, Hudson HL. et al Doses of Nearby Nature Simultaneously Associated with Multiple Health Benefits. Int J Environ Res Pub Health 2017; 14: E172
  • 3 Flowers EP, Freeman P, Gladwell VFA. Cross-sectional study examining predictors of visit frequency to local green space and the impact this has on physical activity levels. BMC Public Health 2016; 16: 420
  • 4 Hartig T, Kahn PH. Living in cities, naturally. Science 2016; 352: 938-940
  • 5 Larson LR, Jennings V, Cloutier SA. Public Parks and Wellbeing in Urban Areas of the United States. PLoS one 2016; 11: e0153211
  • 6 Louv R. Last Child in the Woods: Saving Our Children from Nature-Deficit Disorder. Chapel Hill, NC: Algonquin Books; 2005
  • 7 Maas J, Verheij RA, de Vries S. et al Morbidity is related to a green living environment. J Epidemiol Community Health 2005; 63: 967-973
  • 8 Maas J, Verheij RA, Groenewegen PP. et al Green space, urbanity, and health: how strong is the relation?. J Epidemiol Community Health 2006; 60: 587-592
  • 9 Park BJ, Tsunetsugu Y, Kasetani T. et al The physiological effects of Shinrinyoku (taking in the forest atmosphere or forest bathing): evidence from field experiments in 24 forests across Japan. Environ Health Prev Med 2010; 15: 18-26
  • 10 Shanahan DF. Health benefits from nature experiences depend on dose. Sci Rep 2016; 6: 28551
  • 11 Shanahan DF, Fuller RA, Bush R. et al The health benefits of urban nature: how much do we need?. Bioscience 2015; 65: 476-485
  • 12 Sijtsma FJ, de Vries S, van Hinsberg A. et al Does ‘grey’ urban living lead to more ‘green’ holiday nights? A Netherlands Case Study. Landscape Urban Plan 2012; 105: 250-257
  • 13 Spitzer M. Landschaft. Ästhetik von Petrarca bis zum Titan, über Darwin und den Tsunami. Nervenheilkunde 2005; 24: 137-143
  • 14 Spitzer M. Natur: Geschützt, gesund und teuer!. Nervenheilkunde 2017; 36: 689-694
  • 15 White MP, Alcock I, Grellier J. et al Spending at least 120 minutes a week in nature is associated with good health and wellbeing. Sci Rep 2019; 9: 7730