Der Klinikarzt 2019; 48(05): 169-170
DOI: 10.1055/a-0883-4003
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ob wir's akzeptieren oder nicht …

Matthias Leschke
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Publication Date:
21 May 2019 (online)

Deutschland altert. Und zwar ganz gehörig. Eigentlich ist es cool, dass wir heute mit 80 nicht mehr sterben, nur weil wir multimorbid sind. Diabetes, koronare Herzkrankheit, Karzinom, Hypertonie & Co. – das kriegen wir in den Griff. Daran muss man nicht mehr sterben. Eine Schenkelhalsfraktur mit 76? Ein paar lächerliche Tage billigt der DRG-Katalog dem Chirurgen dafür zu. Bandscheibenprobleme? Tierische Schmerzen? Bauen wir doch einfach einen Neurostimulator ein: Damit sind die Schmerzen im Nu wie weggeblasen.

Ganz nebenbei sei angemerkt, dass die Menschen immer älter werden – die Jungen sind nur noch Exoten. Doch freuen wir uns nicht zu früh. Wir im Krankenhaus handeln uns da nämlich ein dickes Problem ein. Ein ökonomisches und ein ethisches. Dass Ökonomie und Ethik nicht ganz so toll miteinander harmonieren, wissen wir. Und die Politik steht uns da selten bei.

Das Problem sei kurz skizziert: Ein scheinbar harmloser Beitrag in der Fachzeitschrift „KU Gesundheitsmanagement“ hat eine heftige Diskussion ausgelöst. Es geht dem Autor, einem Dr. Dirk Ralfs, um das leidige Thema Belegoptimierung. Wie kriegen wir die Patienten DRG-konform raus aus dem Bett? Bei jüngeren Leuten ist das kein Problem: Die fühlen sich in einer durchoptimierten Klinik nicht sehr wohl und flüchten gerne schnell wieder nach Hause. Doch was ist mit den betagten Patienten, die womöglich auch noch kognitiv eingeschränkt und physisch instabil sind? Die Fraktur ist rasch und professionell behoben. Also könnten sie regelgerecht entlassen werden. Doch da taucht ein Problem auf: Niemand will sie so schnell. Die Angehörigen zögern die Entlassung hinaus, denn der Opa oder die Oma ist zwar knochenmäßig geheilt, bedarf aber noch immenser Unterstützung, um möglichst wieder in die Selbständigkeit entlassen zu werden. Falls überhaupt. In der kleinen Wohnung der Familie ist kein Zimmer frei, und beide Elternteile müssen zur Arbeit, denn die Miete frisst das Familienbudget auf. In Pflegeeinrichtungen ist von heute auf morgen auch kein Platz zu finden. Noch schlimmer wird das Ganze offenbar, wenn der alte Patient – weil alleinstehend – einen gesetzlichen Betreuer hat. Den telefonisch zu erreichen, ist ein Kunststück. Also was tun mit dem entlassfähigen alten Patienten? Zu Recht hat ein Klinikarzt verärgert angemerkt, dass es nicht Aufgabe eines Akutklinikums sei, die Alten nach vollendeter medizinischer Reparatur „aufzupäppeln“. Aufpäppeln – das schmeckt einem vielbeschäftigen Oberarzt, der lieber operiert, natürlich nicht. Aufpäppeln, das ist Schwesternsache. Und Pflegekräfte sind rar und teuer. Nebenbei, der Alte mag auch noch kognitiv eingeschränkt und somit besonders pflegeintensiv sein.

Die gesetzliche Lage ist fatal. Wenn den Opa keiner abholt, muss er in der Klinik bleiben. Man kann ihn nicht einfach auf die Straße setzen. Das bedeutet: Ein Bett ist belegt. Und dieses Bett verursacht Kosten. Dem kaufmännischen Direktor graut es davor. Kostenträger und Politik halten sich fein aus der Sache raus. Der Opa bleibt in der Klinik liegen.

Wir müssen solche Fälle der Öffentlichkeit bekannt machen. Die Leute müssen begreifen, dass wir körperliche Defekte DRG-gerecht reparieren – und dann muss die Gesellschaft schauen, was sie mit den reparierten, auf Hilfe angewiesenen Alten anfängt. Muss das so sein?

Doch cave: Wenn die Leute draußen mitkriegen, dass da eine Klink die Alten nicht mehr aufpäppeln will, dass das Management aus Patienten Reparaturfälle mit Nummern macht und sich um die Rendite sorgt, falls diese Patienten nicht abgeholt werden, kann uns das unser Renommee kosten. Auch wenn der Kollege Recht hat: Ein Manager kann dieses Belegproblem laut beklagen; wir Ärzte, ohnehin gerne zu Sündenböcken degradiert, sollten uns da zurücknehmen. Uns liegt das Wohl des Patienten, gerade auch des alten oder gar dementen, am Herzen. Das ist unser ganz besonderer ethischer Auftrag.

Unsere Krankenhäuser und die Krankenkassen stehen vor gewaltige Aufgaben. Das Problem, dass ein paar Alte nicht abgeholt werden und so deren Betten blockiert sind, ist angesichts der Probleme des demografischen Wandels eine Petitesse. Wir müssen ganz andere Aufgaben bewältigen als der Öffentlichkeit bewusst zu machen, was eine Akutklinik zu tun hat und mit was man sie tunlichst nicht belästigen sollte. Es kann nicht sein, dass da ein paar Opas vom Chirurgen die Knochen wieder zusammengeflickt werden und man sich dann darüber aufregt, dass man sie nicht DRG-gerecht wieder los wird. Der Unfallchirurg, Prof. Liener im Stuttgarter Marienhospital, denkt da weiter: Er hat eine Oberärztin eingestellt, die eine erfahrene Geriaterin ist. Sie selektiert die betagten Notfallpatienten und arrangiert eine ihrem kognitiven Zustand gerecht werdende Begleittherapie, beispielsweise gegen Osteoporose. Noch bevor sie in den OP kommen. Zwar erlaubt das DRG-Korsett auch dort keine zusätzlichen Verweiltage, doch man hat dafür gesorgt, dass diese Patienten rasch eine adäquate Begleittherapie kriegen.

Das ist kein Aufpäppeln, sondern aktives Handeln, um diese Patenenklientel wieder soweit hinzukriegen, dass es im alten Ambiente wieder selbständig weiterleben kann.

Ich meine, dies ist der Pfad unserer ärztlichen Tugend: Nicht lamentieren und sich entrüsten, sondern sich was einfallen lassen, um unsere alten Mitbürger außer dem operativen Benefit wieder fürs normale Leben zu befähigen.

Angefügt sei noch eine polemische Bemerkung: Dem Klinikmanagement geht es bei der Belegoptimierung um Effizienz. Dass unsere Prozesse schlanker und so kostengünstiger werden müssen – dafür votiere ich ohne Abstriche. Die Effizienz unserer ärztlichen Tätigkeit wird jedoch immer stärker eingeschränkt durch ausufernde Dokumentationsaufgaben, durch die Zertifizierungsbürokratie, durch Verwaltungsarbeiten – dem Patienten dient, wenn sein Arzt Zeit hat, sich um ihn zu kümmern.