Diabetes aktuell 2019; 17(03): 81
DOI: 10.1055/a-0873-5523
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Forschung für das Leben eines Diabetikers

Antje Bergmann
1   Dresden
,
Peter E.H. Schwarz
2   Dresden
› Author Affiliations
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Publication Date:
17 May 2019 (online)

Wir gehören in Deutschland zur internationalen Spitze der Diabetesforschung. Wir haben Forschungsprojekte, die auf höchstem wissenschaftlichem und publikatorischem Niveau Pathomechanismen der Diabeteserkrankung, aber auch genetische Ursachen, neue Medikamente und den Pankreasersatz erforschen. Es gibt Bereiche, in denen wir weltweit kompetitiv oder führend sind und das wird zur Verbesserung in der Diagnostik und Therapie des Diabetes mellitus führen. Wenn Setzt man den Gradmesser wissenschaftliche Exzellenz an, sind wir international vergleichbar und sehr gut.

Betrachtet man aber das gleiche Forschungsfeld einmal unter dem Aspekt, wie gut wir darin sind, das Leben unserer Diabetiker zu unterstützen – wie fällt dann das Votum aus? Welche Entwicklungen haben denn einen starken Impact für das Leben von Menschen mit Diabetes? Da ist natürlich einerseits die technische Entwicklung von CGM (continuous glucose monitoring) und FGM (flash glucose monitoring) – technischen Entwicklungen, die uns nach Anwendung bei tausenden Patienten lehren, dass unser Verständnis der Pathomechanismen bei Diabetes mellitus korrigiert werden muss. Die gleiche Technik angewandt bei Gesunden, zeigt ein enormes Potential dafür, Patienten in ihrer Verhaltensänderung zu unterstützen. Es scheint so zu sein, dass das Wissen um konkrete, auch kurzfristige Änderungen des Blutzuckerspiegels, die durch konkrete Verhaltensweisen ausgelöst wurden, dazu führt, dass Patienten oder auch Gesunde intuitiv ihr Verhalten anpassen. Das kann eine sehr starke Bedeutung für das Verhalten von Gesunden und unserer Patienten haben.

Noch viel stärker wirksam ist aber die rasante Entwicklung von Smartphone-Apps und digitalen Produkten. Patienten und Gesunde nutzen diese intuitiv, meist aus Interesse heraus oder durch Empfehlung aus der Peer group. Digitale Produkte werden genutzt und sehr viele persönliche und auch medizinische Daten darin gespeichert, geteilt oder mit Hilfe von Algorithmen ausgewertet. Wie wirksam ist das? Welches Potenzial hat das durchaus als Therapeutikum oder aber für das Verhalten, für Empowerment, Selbstmanagement und „decision making“ unserer Patienten? Wir erleben eine Phase, in der die digitale Literacy (Bildung) des Patienten höher ist, als die digitale Literacy des Arztes im gleichen Kontext. Welche Wirkung hat das auf das Verhalten und die Therapie unserer Patienten? Können wir digitale Produkte als Therapeutikum betrachten oder nur als Unterstützungssysteme? Welche Produkte sind gut und welche nicht? Sollten sich digitale Produkte auch den Phasen der Erkrankung oder nur Phasen der Krankheitsbewältigung anpassen? Viele diese Fragen sind vollkommen unbeantwortet. Es gibt kaum Forschung auf diesem Gebiet, häufig nutzen wir das Argument, dass es so schwer sei, das zu erforschen. Aber ist nicht genau das unsere Aufgabe? Als Diabetesforscher sollten wir alles, was uns hilft, den Patienten besser zu betreuen, aber auch, was dem Patienten hilft, mit seinem Diabetes besser umzugehen, wissenschaftlich untersuchen. Im Moment lassen wir zu, dass es eine Vielzahl digitaler Produkte gibt, die Hunderttausende unserer Patienten nutzen und wir wissen kaum etwas über deren Stärken und Schwächen. Die Situation ist sicherlich bei CGM und FGM noch deutlich besser als bei digitalen Produkten und Smartphone-Apps, die im Moment mit rasanter Geschwindigkeit auf den Markt kommen. Setzt man das als Kriterium für unsere wissenschaftliche Exzellenz an, sieht es bei der Frage, inwieweit wir international kompetitiv und exzellent sind in der Entwicklung und wissenschaftlichen Evaluation dieser Strategien, sehr kritisch aus.

Wir erleben eine Phase, in der nicht die Wissenschaft das Diabetesfeld voranbringt, sondern die Patienten mit ihrem Verhalten die Diabetesrealität verändern. Das sollte für uns Lehre und Ansporn zugleich sein, unser wissenschaftliches Know-how einzusetzen, um das, was Menschen mit Diabetes in ihrem Alltag bewegt, wissenschaftlich zu evaluieren, weiter zu entwickeln und zu wissenschaftlicher und praktischer Exzellenz zu treiben.