Z Sex Forsch 2019; 32(01): 48-49
DOI: 10.1055/a-0835-9517
Bericht
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vielfalt: Vom schönen Bunten und herausfordernd Verwirrenden

Bericht über die 8. Klinische Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung
Ute Lampalzer
Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Publication Date:
20 March 2019 (online)

„Sexualität zwischen Vielfalt und Überforderung“ – so lautete der Titel der 8. Klinischen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung e.V. (DGfS), die vom 21. bis 22. September 2018 in Göttingen stattfand. Nach begrüßenden Worten startete das Programm am Freitagnachmittag mit dem ersten Hauptvortrag. Sophinette Becker erörterte die Frage „Geschlecht und sexuelle Orientierung in Auflösung – was bleibt?“. Unterhaltsam, kritisch, nachdenklich zeigte sie einige heutige Entwicklungen auf: Die Entstehung von immer wieder neuen Identitäten wie z. B. „asexuell“ oder „agender“; die Heterosexualisierung von Homosexualität im Sinne von mehr schwulen und lesbischen Familien sowie einer Zunahme sexueller Funktionsstörungen unter homosexuellen Männern infolge der Zunahme fester Bindungen; die zunehmende Attraktivität von „bisexueller Omnipotenz“, die Geschlecht und Orientierung nicht auf eine Möglichkeit begrenzt. An Beispielen wie einem schwulen Transmann, der schwulen Sex in Form von vaginalem Koitus mit einem schwulen Mann hat, oder einem vierjährigen Mädchen, das – angesprochen auf sein weibliches Geschlecht – ganz selbstverständlich sagt, „aber Papa, ich habe mich doch noch nicht entschieden“, verdeutlichte sie, wie diese zunehmende Vielfalt sich im Alltag präsentiert. Obwohl Geschlechtskategorien sich auflösen oder verschwimmen würden, unterstrich sie jedoch, dass Geschlechtsunterschiede sehr wohl noch eine wichtige Rolle spielten, da z. B. Gleichberechtigung zwar vorstellbar, Patriarchatskritik aber noch nicht überholt sei. Anstatt intensiver Diskurse über „politisch korrekte Sprache“ forderte sie vielmehr eine tiefgehende Auseinandersetzung u. a. mit den Themen Macht, Herrschaft und Emanzipation, dem Zusammenhang zwischen Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung und der Frage, wie viel Flexibilität, aber auch Kohärenz die Psyche benötigt.

Am Samstagmorgen folgte der zweite Hauptvortrag mit dem Titel „Ist der beste Sex nur im Kopf? – Über einige männliche Lösungsversuche zwischen phantasierter, virtueller und leiblicher Sexualität“. Heribert Blass illustrierte anhand von zwei Fallvignetten seine These, dass Männer Cybersex im Vergleich zu Frauen stärker nutzen würden, weil sie auf diese Weise verschiedene Formen von Identifikation, Loslösung und Wiederannäherung an den mütterlichen Körper durchleben könnten, die für Frauen weniger bedeutsam seien. Bei einer unzureichenden psychischen Loslösung vom innerlich anwesenden Körper der Mutter könne durch Cybersex ein Gefühl von Selbstbestimmung bzw. Kontrolle über den als überwältigend und vereinnahmend erlebten weiblichen Körper hergestellt werden. Gleichzeitig könne der Kontakt zu realen Frauen und die damit einhergehende bedrohliche Nähe vermieden werden. Am Ende seines Vortrags appellierte Heribert Blass daran, in der analytischen Beziehung auf die reparative Funktion von Cybersex zu achten, um vor diesem Hintergrund einen Zugang zu einer befriedigenderen Sexualität in der Partnerschaft zu ebnen – so, wie sie z. B. sein beschriebener Patient Herr A. erlebte, nachdem er im therapeutischen Prozess gelernt hatte, sich selbst (zunächst vom Therapeuten, dann von seiner Frau) besser abzugrenzen, und dadurch sein Drang nach exzessiver Masturbation zu Internetpornografie und insbesondere auch sadistisch dominanten Inhalten abnahm.

Jeweils im Anschluss an die Hauptvorträge wurde im weiteren Verlauf des Tages parallel zu verschiedenen Zeitslots eine Vielfalt an Workshops angeboten. Kirsten von Sydow hielt einen Workshop zum Thema „Sexualität und Partnerschaft“. Detlef Vetter gab zum Thema „Wie viel Körper braucht die Sexualtherapie?“ Einblicke in das Potenzial eines waches Leib-Bewusstseins und stellte Interventionen zu den Bereichen Grenzen, Selbstschutz und Kontakt vor. Werner Mendling machte in seinem Workshop „Patientinnen mit Vulvodynie/Vestibulodynie – eine klinische Diskussion“ einerseits die Hilflosigkeit vieler Patientinnen und Behandler_innen deutlich, zeigte aber auch die Erfolge auf, die sich einstellen können, wenn eine einfühlsame Erhebung der Anamnese mit genügend Zeit stattfindet, eine genaue Diagnostik durchgeführt und ein multimodales Therapiekonzept (u. a. mit Physiotherapie, Schmerztherapie, ggf. Antidepressiva, Psychotherapie) angeboten wird.

Jörg Signerski-Krieger thematisierte „Paarsexualität in verschiedenen Lebensabschnitten“, u. a. die in älteren Jahren stattfindende Akzentverschiebung vom Geschlechtsverkehr zu nicht-genitaler Sexualität, die aber nicht mit weniger Freude gelebt werde als die Sexualität im jüngeren Alter, und Sex im Altersheim, dem Pflegekräfte mit großer Unsicherheit begegneten. Im Workshop von Timo Nieder – „Transgender Care – quo vadis? Implikationen der Leitlinie für die therapeutische Praxis“ – wurden Ausschnitte aus der neuen „AWMF-S3-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit“ diskutiert, wobei u. a. der bestehende Konflikt zwischen Transsexuellen, welche einen binären Geschlechtsbegriff vertreten, und Trans*-Menschen, die non-binär denken, deutlich wurde. Thula Koops erläuterte in ihrem Workshop „Weiblichkeit und Geschlechtsidentität bei Frauen mit einer sexuellen Schmerzstörung“ die These, dass der Schmerz ein unbewusster Ausdruck der Verweigerung sei, gesellschaftlichen Normen von Weiblichkeit und heteronormativer Sexualität (mit hohem Stellenwert des Koitus) zu entsprechen. Es folgte eine rege Diskussion über Frau-Sein und weibliche Identität. Daniela Djanic gab unter dem Titel „Sexualität und geistige Behinderung: ‚ich! liebe‘“ unter anderem Einblicke, wie mit bildlichen Mitteln gearbeitet werden kann.

Guido Schneider und Marietta Schwarz beleuchteten „Facetten männlicher Lustlosigkeit – und ihre Bedeutung in Therapie und Beratung“. Sie beschrieben die Konstitution von Unlust als Kompetenz, sich konflikthaft erlebten Herausforderungen eines oft ambivalenten Männerbildes subtil und passiv-aggressiv zu entziehen und der Lust stattdessen in Virtualität oder Pornografie Raum zu geben. In einem differenzierungsbasierten Ansatz eruieren sie u. a. die „guten Gründe“ für die Kultivierung der Unlust, um diese im entstehenden Spannungsfeld mit dem Paar neu zu verhandeln. Im Workshop „Sexuelle ‚Abweichungen‘“ diskutierte Stefan Nagel mit den Teilnehmenden zum einen die These, dass es sich bei Perversionen um vom Mainstream abweichende sexuelle Praktiken handeln würde, die dazu dienen würden, mithilfe besonders starker Mechanismen Angst und Ekel zu regulieren bzw. zu überwinden. Zum anderen erörterte er die These, dass Menschen, für die Sexualität besonders stark angst- und ekelbesetzt sei, diese im Rahmen von Perversionen als Beziehungsgeschehen inszenieren und auf diese Weise in Vertrauen und Vertraut-Sein umwandeln würden. Marianne Eberhard-Kächele und Ruth Gnirss-Bormet stellten in ihrem Workshop „Sexualität beginnt im Tanz zwischen Eltern und Kind“ den Attunement-fokussierten Ansatz in der Sexualtherapie vor: Indem neue Erfahrungsräume geschaffen werden, die auf dem frühkindlichen Erleben von Stimulierung durch die Eltern aufbauen, soll dafür gesorgt werden, dass Paare ihre gemeinsame Regulierung lustvoller Erregung erfahren und verändern können.

Harriet Langanke referierte zum Thema „Prostitution“, woraufhin eine lebhafte und emotional engagierte Diskussion folgte, die u. a. zur Reflexion über das Spannungsfeld zwischen Abolitionismus und Regulierung, PaySex und privatem Sex, Emanzipation und Ausbeutung sowie Kommerz und Romantik aufforderte. Melanie Büttner behandelte das Thema „Sexualität und Trauma“. Sie stellte die komplexen Folgen von sexueller Traumatisierung (z. B. Vermeidung von Sexualität, sexuelles Risikoverhalten) dar und ging auf Bewältigungsstrategien (z. B. Aushalten) und Paardynamiken, d. h. verschiedene Arten der Kollusion, ein. Sie zeigte Wege der Behandlung auf, die sich auf Trauma-, Sexual-, Körper- und systemische Therapie stützen. Inga Becker berichtete im Workshop „Transgender bei Jugendlichen“ u. a. von psychischen und sozialen Problemen, die bei Transjugendlichen vermehrt zu beobachten seien und die durch Behandlung reduziert werden könnten. Es wurden klinische Implikationen, die starke Zunahme der Anzahl von Transjungen und das Risiko einer zu schnellen Einwilligung in Behandlungsmaßnahmen diskutiert. Annette Schwarte thematisierte die Frage „Begrenzte Sexualität? Auswirkungen chronischer Erkrankungen auf sexuelles Erleben“. Sie ging auf körperliche (z. B. Krebs- und Herzerkrankungen) und emotionale (z. B. irrationale Ängste) Ursachen sexueller Lustlosigkeit ein und besprach v. a. Therapiemöglichkeiten zu erektiler Dysfunktion und Dyspareunie. Isabel Müller und Tamara Wild stellten das verhaltenstherapeutisch ausgerichtete „Therapiemanual zur Prävention sexuellen Missbrauchs“ vor, welches mit Modulen u. a. zu Veränderungsmotivation, Risikofaktoren und Problembewältigung auf den Abbau von Risiko- und den Aufbau von Widerstandsfaktoren zielt.

Zusätzlich gab es zahlreiche Angebote für Fallbesprechungen, z. B. bei Margret Hauch und Herbert Gschwind zum Thema „Sex im Alter“, bei Berit Brockhausen und Ulrich Gooß zum Thema „Keine Lust auf Sex“ und bei Jörg Signerski-Krieger und Heike Anderson-Schmidt zum Thema „Psychische Erkrankungen und Sexualität“. Bei Annette Güldenring und Will Preuss stand „Trans“ im Mittelpunkt: Nach einem bildlich illustrierten Rückblick (z. B. auch auf Trans*-Subkulturen aus den 1970er- und 1980er-Jahren) sowie einem Ausblick auf die zukünftige Behandlung von Geschlechtsdysphorie wurden zwei komplexe Fälle eingebracht, die Fragen zu Zeitdruck und Sich-Zeit-Lassen aufwarfen. Annika Flöter und Reinhold Munding fokussierten „Psychotherapie bei Sexualdelinquenz“; insbesondere ging es um die Schwierigkeit, als Therapeut_in mit der Verleugnung des Delikts umzugehen. Renate Bauer und Johannes Wahala erörterten mit ihrer Gruppe „Sexuelle Funktionsstörungen“ und deren Erscheinungsbilder sowie mögliche Bedeutungen für die einzelne Person und für das Paar (z. B. Kanalisierung gehemmter Aggressionen). Unter der Leitung von Reinhardt Kleber und Aglaja Stirn wurde über das Phänomen „Bodymodifikation“ gesprochen, z. B. die höchst privaten und gleichzeitig gesellschaftlichen Aussagen sowie die kontrovers erörterte Frage der Luststeigerung.

Die Tagung schloss mit einer Podiumsdiskussion. Unter der Moderation von Margret Hauch diskutierten Sophinette Becker, Martin Dannecker, Annette Schwarte und Detlef Vetter, wobei das Motto der Tagung „Sexualität zwischen Vielfalt & Überforderung“ noch einmal sehr gegenwärtig wurde. Fragen – ohne Antworten – wurden aufgeworfen wie: Ist Begehren auf bestimmte Körper gerichtet und inwiefern können diese auch durch Imagination erzeugt werden, wenn Sex mit einem eigentlich anderen Körper stattfindet (z. B. im Verlauf einer Transition)? Inwiefern findet heute eine Selbstermächtigung bzgl. der sexuellen und geschlechtlichen Identität statt und inwiefern ist diese Identität aber auch auf Anerkennung durch andere angewiesen? Wie kann eine Therapeutin ihr Nicht-Verstehen ausdrücken bei einer ihr konstruiert erscheinenden Mischung aus Identitätsbegriffen wie pansexuell, asexuell, non-binär und polyamorös in ein und derselben Person, ohne das Gegenüber zu kränken? Neben all dem wurde aber auch angemerkt, dass – angefangen mit klar getrennter Babykleidung in Rosa oder Blau – neben allen neuen Entwicklungen vielfach auch eine Retraditionalisierung der Geschlechterrollen zu bemerken sei. Insofern hatten die Teilnehmenden auf dem Nachhausweg noch genügend Stoff zum Nachdenken.