Phlebologie 2019; 48(01): 11-14
DOI: 10.1055/a-0833-1199
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Der Monddoktor im Alten Berlin

Wolfgang Hach
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Publication Date:
19 February 2019 (online)

Das „Alte Berlin“ und seine „Berliner“ kann man sich heute kaum noch vorstellen. In ihren Erinnerungen an „Mein liebes altes Berlin“ anno 1912 berichtete die Schriftstellerin Agathe Nalli-Rutenberg von ihrer Berliner Jugendzeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vor dem Anhaltstore (Anhalter Tor) zogen sich weite Wiesenflächen und Felder hin. Es standen nur wenige Gebäude in der Schöneberger Straße; man lebte dort wie auf dem Lande. Die Leute kannten sich alle untereinander. Auf den Wiesen wuchsen im Sommer Blumen die Hülle und Fülle, Butterblumen, weiße Gänseblümchen und die zarten Wiesennelken. Überhaupt war Berlin damals eigentlich eine Gartenstadt. Fast hinter jedem Hause befand sich ein hübscher Garten. Besonders weit ausgedehnt waren diese Gärten in der Friedrichstraße [10]. Gemüsegärten zu beiden Seiten, dazwischen eine Koppel mit grasenden Pferden und spielenden Fohlen. [9].

Dieses idyllische Berlin des frühen 19. Jahrhunderts geriet durch die schnelle Industrialisierung und den Ausbau der Anhalter und Potsdamer Eisenbahnen ab 1838 in den Sog der allzu schnell aufstrebenden Großstadt, was ich selbst aus den Erzählungen der Großeltern noch nacherleben durfte. Es war einerseits das Berlin der prunkvollen Kaiserzeiten von Friedrich III (1831–1888) und Wilhelm II (1859–1941), aber andererseits auch des Miljöh von Heinrich Zille (1858–1929) mit allergrößten sozialen Problemen der Bevölkerung.

Die industrielle Reform Berlins mit der Verelendung ihrer Einwohner ist als Voraussetzung für die nachfolgenden Ereignisse zu sehen. Ganz am Anfang, so um 1800 herum, lag diese Entwicklung noch im Rahmen eines kulturellen, in der Aufklärung verankerten Rahmens. Dann traten aber die Interessen des Kapitals mehr und mehr in den Vordergrund [5]. Für die immer größer werdenden technischen Projekte wurden unzählige Arbeitskräfte aus dem ganzen Land gesucht. Mein Großvater mütterlicherseits kam als Zimmermann aus Sachsen zu Siemens nach Berlin, der andere Großvater als Schlosser für den Bau der großen Swinemünder Eisenbahnbrücke am Gesundbrunnen aus der Pfalz.

Um 1880 feierte die wissenschaftliche Medizin in der Berliner Charité zwar Welterfolge, die ärztliche Versorgung der einfachen Menschen aber ist auf niedrigsten Niveau stecken geblieben. Mystische und magische Behandlungsmethoden waren gang und gäbe, und Scharlatane konnten leicht ihre Anhänger finden. Zu ihnen gehörten der Ziegenprophet im siebenjährigen Schlesischen Krieg, der barfuß und nur mit einem Ziegenfell bekleidet die Kranken mit dem Straßenkothe behandelte, oder der prophezeihende Weber Pfannenstiel oder der trunksüchtige Berlinische Kuhdoktor Kunath mit seiner mystischen Seife gegen alle Krankheiten der Haut [8]. Ein anderer Scharlatan, der Monddoktor, löste geradezu eine revolutionäre Welle in der Bevölkerung aus, die schließlich ein jähes Ende fand.