Nervenheilkunde 2019; 38(01): 49-52
DOI: 10.1055/a-0824-2347
Geist & Gehirn
Georg Thieme Verlag KG

Das haptische Gedächtnis

Manfred Spitzer
Further Information

Publication History

Publication Date:
07 March 2019 (online)

Ohne Körper könnten wir keine Individuen sein [[3], [4]]. Daher können wir nicht, wie die Transhumanisten glauben, demnächst in der Cloud ewig leben, wenn es nur erst einmal möglich wäre, unseren Geist dort „down zu loaden“, wie man heute sagt. Die Christen haben da schon lange konsequenter gedacht und glauben daher an die Auferstehung des Leibes. Man kann sich sonst auf Wolke 7 einfach nicht mit seinen Urenkeln treffen!

Unser für die Wahrnehmung von Raum, Körperlichkeit, Mein versus Nicht-mein, Außen und Innen zuständiger Sinn ist der Tastsinn. Weder Sehen noch Hören informieren uns über uns selbst, und auch die Nahsinne (die man von den beiden genannten, als Fernsinne bezeichneten, Modalitäten unterscheidet) Geruch und Geschmack tun dies nicht. Einzig der Tastsinn informiert uns über uns selbst.

Er ist so elementar, dass wir ihn oft nicht bemerken. Wie ein gutes Betriebssystem auf einem Computer läuft er immer mit und wird meist nur bemerkt, wenn er ausfällt. Anders als bei Computer-Betriebssystemen kommt es dabei nie zum Totalausfall. Denn er ist – im Gegensatz zur heute in unseren Computern üblichen Hardware – eher so wie das Internet aufgebaut: Dezentral und mit Redundanz bei zentralen Leitungen und Knotenpunkten.

Das fängt schon bei den Rezeptoren an. Im Gegensatz zum Sehen (Stäbchen und Zapfen) und Hören (innere Haarzellen) gibt es beim Tastsinn eine ganze Reihe unterschiedlicher Rezeptoren mit historisch bedingten klangvollen Namen[ 1 ] wie Vater-Pacini-Körperchen, Krause-Endkolben, Merkel-Tastscheibe oder Ruffini-Körperchen (▶ [ Tab. 1 ]). Gemessen werden mit diesen Sensoren zum Ersten statische Kräfte (z. B. der auf den Fußsohlen lastende Druck, die Dehnung der Haut) mit langsam adaptierenden Rezeptoren, zum Zweiten Veränderungen bzw. Bewegungen (schnell adaptierenden Rezeptoren) und zum Dritten Beschleunigung (also Veränderungen von Geschwindigkeiten mit sehr schnell adaptierenden Rezeptoren). Direkt gemessen werden also Werte sowie die erste und zweite Ableitung von Weg- (bzw. Winkel-, bei Gelenken)Zeit-Funktionen. Über schnell leitende Nervenfasern gelangen diese Informationen ins ZNS. Mit geschätzten 300 Millionen bis 600 Millionen Rezeptoren ist die Haut damit das mit Abstand größte Sinnesorgan des Menschen. (Zum Vergleich: Im Innenohr bewirken gerade einmal etwa 3000 innere Haarzellen das Hören, und in der Netzhaut des Auges befinden sich etwa 120 Millionen Stäbchen und 6 Millionen Zapfen). Die Weiterverarbeitung des Tastsinns ist komplex und besteht unter anderem darin, dass er mit den anderen Sinnen vernetzt wird. Hieraus ergibt sich dann der Gesamteindruck des Objekts, das man sehen, hören und tasten kann.

Gelegentlich stolpert man über eine Arbeit, die ganz schlicht und einfach daherkommt, ohne teure Scanner oder schwierige Formeln, und gerade dadurch – ihre Einfachheit und Klarheit – den Leser in ihren Bann zieht. So ging es mir mit einer Arbeit über das haptische Gedächtnis, die im Dezember im Fachblatt Psychological Science publiziert wurde, und deren Inhalt ich im Folgenden kurz nachzeichnen möchte.

Wenn wir Dinge sehen, Geräusche, Sprache oder Lieder hören oder an einer Rose oder frischen Erdbeeren riechen, dann merken wir uns das – nicht selten erstaunlich gut, mit vielen Details. Seit Jahrzehnten weiß man, dass beispielsweise unser visuelles Gedächtnis über erstaunlich viel Speicherkapazität verfügt: Man lies Versuchspersonen eine größere Anzahl von Bilder für jeweils 5 Sekunden betrachten und bat sie danach, von zwei gezeigten Bildern – jeweils ein bereits betrachtetes Bild und ein neues Bild – dasjenige herauszusuchen, dass sie zuvor gesehen hatten. Das klappte sehr gut mit 10, 20 und mit 40 Bildern, sodass man mit 100, 200 und 400 Bildern weitermachte. Auch das klappte sehr gut und so machte man weiter. Bei 10 000 Bildern – für jeweils 5 Sekunden über 5 Tage verteilt betrachtet – hörte man auf. Es klappte noch immer, aber zum Weitermachen fehlte offenbar die Lust [[3]].

Auch Gehörtes können wir uns sehr gut merken: Zehntausende von Wörtern erkennen wir vollkommen problemlos beim Verstehen von Sprache, Schauspieler kennen ihre Rollen wörtlich, Sänger ihre Texte etc.

Zwei deutsche Psychologen von der Universität Regensburg gingen nun der Frage nach, wie es sich mit dem Gedächtnis für Informationen des Tastsinns verhält [[2]]. In einem ersten Experiment mussten 26 Versuchspersonen (15 davon weiblich, mittleres Alter: knapp 24 Jahre) insgesamt 168 Objekte für jeweils 10 Sekunden mit verbundenen Augen be- bzw. ertasten (▶[ Abb. 1 ]). Danach erhielten sie einen der zuvor ertasteten Gegenstände und einen neuen, ähnlichen Gegenstand gleicher Kategorie (jedoch mit Unterschieden in haptischen Details) und sollten angeben, welchen der beiden sie zuvor schon ertastet hatten (man spricht auf Neudeutsch von „two-alternative forced-choice test“). Um die Stabilität der Gedächtnisspuren im Bereich des Tastsinnes zu beurteilen, wurde die Hälfte der Objekte direkt nach dem Betasten in der beschriebenen Weise haptisch „abgefragt“, die andere Hälfte dagegen erst nach einer Woche (▶[ Abb. 2 ]).

Das Ergebnis überraschte durchaus, konnten die Teilnehmer des Experiments direkt danach doch 80 der 84 zuvor ertasteten Objekte (94,4 % ± 4,3 % SD) korrekt identifizieren. Selbst nach einer Woche lagen sie in 71 Durchgängen (84,6 % ± 8,6 % SD) richtig (▶[ Abb. 3 ]). Sie hatten im Verlauf der einen Woche also nur 9 Objekte vergessen.

Tab. 1

Rezeptoren des Tastsinns

Name

Abbildung

Typ

Lokalisation im Körper

Empfindung

Vater-Paccini-Körper (nach dem deutschen Anatom Abraham Vater, 1684–1751, und dem italienischen Anatom Filippo Pacini, 1812–1883)

rasch adaptierender Mechanorezeptor

Unterhaut (Subcutis), besonders Handflächen und Fußsohlen; auch an den großen Sehnen platten, in der Bauchspeicheldrüse, der Knochenhaut, der Vaginalwand, im Retroperitonealraum und im Gewebe um die Harnblase

Vibration

Krause-Endkolben (nach dem deutschen Anatom Wilhelm Krause, 1833–1910)

rasch adaptierender Mechanorezeptor

Lederhaut

Vibration

Merkel-Tastscheibe (nach dem deutschen Anatomen Friedrich Merkel, 1845–1919)

langsam adaptierender Mechanorezeptor

Basalzellschicht der Oberhaut

Druck

Ruffini-Körperchen (nach dem italienischen Anatomen Angelo Ruffini, 1864–1929)

langsam adaptierender Dehnungsrezeptor

Lederhaut (stratum reticulare), Wurzelhaut der Zähne, Gelenkkapseln

Druck und Dehnung, Gelenkstellung, Winkelgeschwindigkeit

Meissner-Körperchen (nach dem deutschen Anatomen Georg Meissner, 1829–1905)

rasch adaptierender Mechanorezeptor

Lederhaut (stratum papillare), besonders in den Fingerkuppen

Druckveränderungen

In einem zweiten Experiment wurde untersucht, ob sich dieses Ergebnis auch dann replizieren lässt, wenn man die Versuchspersonen nicht zuvor instruiert, sich die Objekte zu merken. Es wurde ihnen vielmehr gesagt, dass es in dem Test um die Beurtei-lung der ästhetischen Qualität von Objekten geht, die sie auf einer Skala von 1 (sehr unangenehm) bis 7 (sehr angenehm) zu bestimmen hatten. Die Autoren beschreiben ihre Instruktion wie folgt: „To ensure that the participants explored the objects thoroughly, we told them that aesthetic judgments may depend on small details and that they should hence pay attention to the objects’ texture, shape, and weight“ [[2], S. 2034].

Auch die Notwendigkeit einer weiteren Experimentalsitzung wurde nicht mit „wir machen dann in einer Woche noch ’nen Gedächtnistest“ erklärt, sondern damit, dass nach einer Woche weitere 168 Objekte ästhetisch zu beurteilen seien und dass man nicht alle auf einmal durchgehen könne. Dennoch fielen 5 Teilnehmer nicht auf diesen „Trick“ herein und vermuteten (wie durch eine entsprechende Nachfrage am Ende des gesamten Experiments in Erfahrung gebracht wurde), dass es um eine Gedächtnisaufgabe gehen würde. Deren Daten wurden von der Auswertung ausgeschlossen, sodass bei insgesamt 48 Teilnehmern 43 Datensätze (39 von weiblichen Teilnehmern, Durchschnittsalter gut 20 Jahre) zur Verfügung standen.

Zoom Image
Abb. 1 Beispiele der einzeln für jeweils 10 Sekunden zu ertastenden Objekte (die Bilder wurden, den Angaben der Autoren entsprechend, heruntergeladen von „Open Science Framework at “osf.io/bnsqw; nach [[2]], Abb. 1a).

Die Abfrage erfolgte nach einer Woche auf 2 Weisen: 84 Objekte waren wie im ersten Experiment haptisch durch Vergleich mit einem neuen ähnlichen Objekt zu identifizieren. Die anderen 84 Objekte wurden hingegen mitsamt dem zweiten ähnlichen Objekt visuell dargeboten. Es handelte sich also um eine die Sinnesmodalitäten Tasten und Sehen übergreifende Erkennungsaufgabe („cross-modal recognition test“). Zudem wurden alle Teilnehmer bei jedem einzelnen Erkennungsdurchgang danach gefragt, wie sicher sie sich sind, d. h. ob sie sich entweder klar erinnern konnten, oder ob ihnen das Objekt vage bekannt sei oder ob sie schlicht geraten hätten.

Auch das Ergebnis des zweiten Experiments überraschte, konnten die Teilnehmer des Experiments eine Woche nach unbeabsichtigtem Enkodieren noch 79,2 % (± 6,4 % SD) der Objekte korrekt identifizieren. Selbst beim kreuzmodalen visuellen Abfragen lag die korrekte Identifikation des Objekts noch bei 73,3 % (± 7,3 % SD; Abb. 3).

Im Hinblick auf die Einschätzung ihrer jeweiligen Gedächtnisleistung ergab sich zunächst, dass diese bei der haptischen Erinnerung gleich verteilt war (1/3 „erinnert“, 1/3 „bekannt“ und 1/3 „geraten“). Beim visuellen Erinnern der haptisch enkodierten Information ergab sich hingegen, dass vergleichsweise weniger „erinnert“ und mehr „geraten“ wurde. Schaute man nach, wie gut diese Einschätzung mit der tatsächlichen Gedächtnisleistung übereinstimmte, so ergab sich, dass „erinnert“ eingeschätzte Objekte auch zu etwa 90 % korrekt identifiziert wurden, „bekannte“ Objekte zu knapp 80 % und „geratene“ Objekte zu etwa 65 %.

Zoom Image
Abb. 2 Visuelle Beispiele für die haptische Abfrageprozedur (nach [[2]], Abb. 1a). Für das Experiment wurden insgesamt 168 Objekt-Paare verwendet.

Die beiden Experimente zusammen zeigen damit erstens, dass unser Gedächtnis für Tast-Erinnerungen bemerkenswert gut funktioniert. Zum zweiten sind diese Erinnerungen offenbar gut mit anderen Modalitäten vernetzt, was sich an der sehr guten Leistung der Probanden beim visuellen erinnern haptisch enkodierter Gedächtnisinhalte zeigte. Drittens zeigt sich diese Erinnerungsleistung auch dann fast so gut, wenn nicht bewusst enkodiert, sondern „nur“ verarbeitet wird. Hierbei handelt es sich letztlich um eine sehr grundlegende Eigenschaft unseres Gehirns: Seine synaptischen Verbindungen ändern sich, wenn sie benutzt werden, oder anders ausgedrückt: Verarbeiten und Lernen sind 2 Aspekte des gleichen Prozesses. Dass dieser Prozess in uns abläuft, ohne dass wir dem gewahr sind, zeigen schließlich viertens auch die Urteile der Probanden im Hinblick auf ihr Gedächtnis: Wenn sie sich sicher waren, dann stimmte dies meistens, wenn sie meinten, sich erinnern zu können, stimmte es noch in drei Vierteln der Fälle. Wenn sie jedoch meinten, sie hätten „nur geraten“, war die Gedächtnisleistung dennoch deutlich über dem Zufallsniveau. Das Gehirn lernt immer. Es kann nicht anders.

Zoom Image
Abb. 3 Ergebnisse des ersten (linke Säulen) und zweiten (rechte Säulen) Experiments. Mittelwerte und Standardabweichungen; man beachte, dass 50% die Zufallswahrscheinlichkeit darstellt und damit den relevanten „Nullpunkt“ der Säulen (nach Daten aus [[2]]).
Zoom Image
 
  • Literatur

  • 1 Grunwald M. Homo Hapticus.. München: Droemer; 2017
  • 2 Hutmacher F, Kuhbandner C. Long-term momory for haptically explored objects: Fidelity, Durability, incidental encoding, and cross-modal transfer.. Psychological Science 2018; 29: 2013-2018.
  • 3 Standing L. Learning 10,000 pictures.. The Quarterly Journal of Experimental Psychology 1973; 25: 207-222.
  • 4 Strawson P. Einzelding und logisches Subjekt (Individuals).. Stuttgart: Reclam; 1972