Nervenheilkunde 2019; 38(01): 2-3
DOI: 10.1055/a-0772-4457
Zu diesem Heft
Georg Thieme Verlag KG

Nervenheilkunde

Zeitschrift für interdisziplinäre Fortbildung
Jörg M. Fegert
1   Ulm
,
Daniela Harsch
1   Ulm
,
Ulrike Hoffmann
1   Ulm
,
Andreas Witt
1   Ulm
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Publication Date:
22 February 2019 (online)

Mobbing, Bullying, Stigma und Ausgrenzung

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Prof. Dr. med. Jörg Fegert, Ulm
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Andreas Witt, Ulm
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Dr. Daniela Harsch, Ulm
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Dr. Ulrike Hoffmann, Ulm

Durch die öffentliche Debatte über Skandalfälle im Kinderschutz seit der Jahrtausendwende, verbunden mit einer Einstellungsveränderung nach der Einführung der gewaltfreien Erziehung ins BGB, ist der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellem Missbrauch mittlerweile ein breit diskutiertes Thema. Dennoch sind gerade an der Brücke zwischen den Systemen wie Gesundheitswesen und Jugendhilfe noch Verbesserungen notwendig, die zunächst auch mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz intendiert waren. Erforderlich ist auch ein regelmäßiges Monitoring der Nachhaltigkeitsziele und ihre Berücksichtigung in der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, in der bislang der Bereich „gerechter Bedingung für das Familienleben“ quasi nicht aufzufinden ist.

Generell lautet das Nachhaltigkeitsziel 16 „Promote just, peaceful and inclusive societies“. Inklusion, verbesserte Teilhabe und die Vermeidung von Ausschluss durch Ausgrenzung und Mobbing sind weniger greifbar als der direkte Schutz von Kindern vor Gewalt. Wir wissen, dass die Folgen von Herabsetzung durch Mobbing oder Bullying ähnlich belastend sind wie die Folgen von Misshandlung und Missbrauch. Es ist bekannt, wie schwierig es für manche Kinder mit Beeinträchtigungen ist, am schulischen Leben und generell am Leben in der Gemeinschaft teilzuhaben. Doch Teilhabe, ein Recht auf verlässliche Beziehungen oder die inklusive Gesellschaft sind Konstrukte, die häufig kritisch gesehen werden, weil z.B. Eltern weniger beeinträchtigter Kinder befürchten, dass sich die Zukunftschancen ihrer Kinder durch die Verbesserung von Teilhabechancen anderer Kinder verschlechtern. Begriffen wie „Inklusion“ und „Teilhabe“ haftet etwas technisch-administratives an. Dabei geht es doch individuell darum, dass Kinder und Jugendliche „dazugehören“ können und sich in gemeinschaftlichen Kontexten in der Familie, in der Schule und im Freundeskreis dazugehörig fühlen.

Das vorliegende Themenheft der Nervenheilkunde beschäftigt sich mit den Themen Mobbing, Bullying, Stigma und Ausgrenzung. Die Familie, Schulen und Beziehungen mit Gleichaltrigen stellen für Kinder und Jugendliche relevante Orte der Entwicklung dar. Erfahren Kinder und Jugendliche in der Familie, in der Schule und/oder speziell in Gleichaltrigenbeziehungen Mobbing, Bullying, Stigmatisierung oder Ausgrenzung aufgrund gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, haben diese negative und anhaltende Auswirkungen auf die Betroffenen und können einen deutlichen Eingriff in das Prinzip der Partizipation darstellen. Die Kinder und Jugendlichen erfahren Ausgrenzung, haben also nicht das Gefühl, dazuzugehören. „Dazugehören“ ist für Jugendliche ein Ausdruck für zentrale Prinzipien, wie Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, Integration und Inklusion. Diese Begriffe sind jedoch von der Sprachwelt der Kinder und Jugendlichen oft Meilen weit entfernt. Die Patienten der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie haben das Motto „Dazugehören“ für diesen Wunsch nach verbesserter Teilhabe und als Ausdruck gegen Mobbing, Exklusion und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gefunden. Der Schwerpunkt dieses Heftes liegt auf der Darstellung der Folgen verschiedener Formen von Ausgrenzung und Gewalt, die die Kinder und Jugendlichen erfahren können. Zudem werden Interventionsmöglichkeiten und deren Effektivität vorgestellt. In den letzten Jahren haben Forschungsarbeiten gezeigt, welchen Einfluss Phänomene wie Mobbing, Bullying, Stigma und Ausgrenzung haben können, welche gesellschaftliche Relevanz diese also haben.

Rebecca Brown, Paul Plener, Elmar Brähler und Jörg M. Fegert stellen in ihrer Untersuchung den Zusammenhang von Mobbing, internalisierenden Problemen und der Inanspruchnahme von psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungen anhand einer bevölkerungsrepräsentativen Studie dar. Mobbing hat sich in internationalen Studien als bedeutsamer Risikofaktor für negative gesundheitliche Folgen gezeigt. Ein bisher wissenschaftlich eher weniger beachtetes Thema beleuchten Andreas Witt und Jörg M. Fegert. Diese stellen aktuelle Untersuchungen zu Bullying unter Geschwistern zusammen. Die aufgeführten Ergebnisse legen nahe, dass es sich hier um ein häufiges Problem mit vielfältigen und langfristigen Folgen für die Betroffenen handelt. Die Folgen für die Betroffenen sind vergleichbar mit den Folgen von Bullying durch Gleichaltrige. Dazu passend stellen Susanne Witte, Sabine Walpert und Jörg M. Fegert die Ergebnisse einer Retrospektivbefragung von Erwachsenen zu Konflikten, Gewalt und Rivalität in Geschwisterbeziehungen dar. Die Ergebnisse zeigen eindrücklich, dass insbesondere Rivalität und Feindseligkeit durch Geschwister in der Kindheit mit psychischer Belastung im Erwachsenenalter assoziiert sind. Theresa Jung, Ulrike Hoffmann und Jörg M. Fegert stellen in ihrem Artikel den Verein Dazugehören e.V., ein interdisziplinäres Engagement gegen Ausgrenzung und für Teilhabe und Integration dar. Der Verein greift somit die gesellschaftliche Bedeutung des Problems auf und hat sich die Themen Aufklärung, Vernetzung, Dissemination und Förderung praxisbezogener Forschung zum Ziel gesetzt.

Der zweite Teil des Themenheftes befasst sich mit vielversprechenden Interventionen. So stellen Nicolas Rüsch, Luise Nehf, Julia Djamali, Nadine Mulfinger und Sabine Müller die durch gleichaltrige geleitete Gruppenintervention gegen die Stigmatisierung „In Würde zu sich stehen“, oder „Honest, Open, Proud“ (HOP) und dessen Effektivität vor. Das Gruppenprogramm unterstützt Teilnehmer in deren Überlegungen zur Offenlegung einer psychischen Störung, um den Einfluss drohender Stigmatisierung zu reduzieren. Mobbing ist ein weit verbreitetes und ernstzunehmendes Problem. Repräsentativen Umfragen zufolge ist ca. jeder vierte Schüler in Europa dadurch betroffen. Vanessa Jantzer, Franz Resch und Michael Kaess stellen das einzige evidenzbasierte Mobbing-Präventionsprogramm, das Olweus Mobbing-Präventionsprogramm, vor und geben einen Überblick über die Ergebnisse einer Studie zu dessen Wirksamkeit. Der virtuelle Raum und das Internet gewinnen zunehmend an Bedeutung, insbesondere Jugendliche verbringen mittlerweile einen Großteil ihrer Zeit online. Herbert Scheithauer, Pavle Zagorscak und Anja Schultze-Krumbholz beleuchten deshalb in ihrem Beitrag das Thema Cybermobbing und stellen die Ergebnisse einer Intervention gegen Cybermobbing vor. Abschließend stellt Anna Sacher Santana einen kunsttherapeutischen Ansatz zum Umgang mit dem Thema dar. In ihrem Kunst(-therapeutischen) Projekt wird das Thema des „Dazugehörens“ für Jugendliche erfahrbar gemacht und schließlich gemeinsam realisiert.

Die Beiträge in diesem Heft geben also einen Überblick über die Vielfältigkeit der Folgen von Mobbing, Bullying, Stigma und Ausgrenzung sowie Interventions- und Präventionsmöglichkeiten. In diesem Sinne wünschen wir Ihnen eine interessante Lektüre mit Anregungen für die Behandlung Ihrer Patienten.