manuelletherapie 2018; 22(05): 203-206
DOI: 10.1055/a-0764-5155
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Herausforderungen meistern: 6. Deutsches McKenzie-Symposium

Jörg Schellbach
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Publication Date:
07 January 2019 (online)

Am 16. Juni fand in Köln das 6. Deutschsprachige McKenzie-Symposium statt, an dem 120 Teilnehmer aus Deutschland, Österreich, Schweiz, Holland, Tschechien und Ungarn teilnahmen ([ Abb. 1 ]).

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Abb. 1 Besucher des Symposiums. (Quelle: J. Schellbach)

Der Allgemeinmediziner und McKenzie-Therapeut Dr. Mathias Rosenbaum aus Lübeck eröffnete das Symposium und leitete zum ersten Themenblock Radikulopathien über.

Wer der Ansicht war, dass Bandscheibenoperateure sehr „bilderhörig“ zum Skalpell greifen, wurde vom Neurochirurgen Dr. Frieder Cortbus aus Bad Schwartau eines Besseren belehrt. Er erläuterte seine leitliniengetreue, strukturierte, klinische Diagnostik und OP-Indikationsstellung. Diese basiert auf der Erkennung klinischer Muster, die den Ausschluss von Kontraindikationen, wie z. B. Tumoren beinhaltet. Hier bestehen viele Parallelen zum McKenzie-Befund. Die Kombination mit der radiologischen Diagnostik führt zur Indikationsstellung für invasive oder konservative Verfahren. Als Beispiel stellte Dr. Cortbus die periradikuläre Infiltration vor, die zwar die Schmerzen, jedoch nicht die neurologischen Ausfälle behandeln kann. Anhand seiner hochgradig gestressten Patienten mit schweren neuropathischen Beinschmerzen stellte er das aktuelle nicht operative und operative Spektrum sowie die Schwierigkeiten und möglichen Komplikationen mittels aussagekräftiger Bilder vor. Den Abschluss bildete eine aktuelle Multicenter-Studie von Thomé et al. [1], die gute Effekte des neuartigen Verschlusses der Bandscheibe zeigte. Der eindrückliche Vortrag eines erfahrenen Operateurs mit dem Blick auf aktuelle Evidenz als auch die Patienten.

Der Physiotherapeut und Lehrer des McKenzie-Instituts Deutschland/Schweiz/Österreich, Christian Garlich, schrieb sich auf die Fahnen, die aktuelle Evidenz von Radikulopathien in Diagnostik und Behandlung mit nützlichen, klinischen Tipps zu garnieren. Seine Präsentation begann mit einem Einblick in seine klinische Arbeit und die Schwierigkeiten im Umgang mit Patienten mit Radikulopathie. Diese beginnen bei der von uneinheitlichen Terminologien wie Ischialgie, radikulärer Schmerz, Neuropathie und Radikulopathie geprägten Diagnose und setzen sich fort durch die fehlende Validität gängiger neurologischer Tests, Dermatom-Zuordnung oder neurodynamische Tests. Anhand der Arbeiten von Prof. Annina Schmid [2] et al. von der Universität Oxford (GB) belegte er, dass die gängigen neurologischen Untersuchungen nur 20 % der Nervenfasern untersuchen. Dabei handelt es sich um die für Motorik und Berührung verantwortlichen dicken, myelinisierten Fasern. Die nicht erfassten nicht myelinisierten Fasern sowie Entzündungsreaktionen von komprimierten Nerven erschweren die Klassifizierung von Patienten mit den typischen, nicht dermatomalen Schmerzausbreitungen. Diese schwer zuzuordnenden, großflächigen Schmerzareale entstehen durch die Ausweitung der Entzündungen vom Ort der Läsion über das dorsale Wurzelganglion des betroffenen Segmentes zu den Wurzelganglien benachbarter Segmente und erschweren die Testung.

Der Hauptteil seines Vortrages richtete sich an die Kliniker. Mit aktuellster Literatur unterfüttert, vermittelte er den „State of the Art“ von Anamnese, klinischer Untersuchung und Behandlung dieser schmerzgeplagten Patientengruppe. Besonders hilfreich waren die Abgrenzung zu anderen Beinschmerzen verursachenden Pathologien und die differenzierten Therapieempfehlungen für die verschiedenen Verlaufsphasen. Positive Erfahrungen macht er dabei mit einem, die Patienten beruhigenden Schaubild mit dem typischen Verlauf einer Radikulopathie, das die gute Prognose für 80 % dieser Patientengruppe darstellen kann ([ Abb. 2 ]).

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Abb. 2 Verlauf einer mechanisch nicht beeinflussbaren Radikulopathie (MNR): Zeichen und Symptome. (Quelle: J. Schellbach; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)

Nach der Pause fanden vier Workshops jeweils viermal statt, sodass die Teilnehmer alle besuchen konnten. Zur Auswahl standen:

  • Spielt die Größe eine Rolle? Mechanische Diagnose und Therapie (McKenzie) und die kleinen Gelenke. Während Pathologien an den großen Gelenken und der Wirbelsäule im therapeutischen Alltag häufiger sind und zum Tagesgeschäft der meisten Kollegen gehören, treten die Beschwerden der kleinen Gelenke seltener auf und ermangeln einer Routine. Die McKenzie-Instruktoren Reto Genucchi und Christian Garlich gewährten einen Einblick in Diagnostik und Management von Problematiken der Finger (Daumensattelgelenk), Zehen (Großzehengrundgelenk) und des Kiefergelenks. Die Teilnehmer wurden interaktiv in die Problemlösung und Therapieplanung der Patientenbeispiele eingebunden. Die Instruktoren präsentierten einige interessante Behandlungsvarianten. Erstaunlich war die in den Fallbeispielen demonstrierte gute Übertragbarkeit der Grundprinzipien des McKenzie-Konzepts auf diese Gelenke und dass sich bei der „Großzehen-Patientin“ auch die Nagelpilzerkrankung unter der mechanischen Therapie besserte.

  • Die Exposs-Studie: Clear the spine first – aber wie? McKenzie-Instruktor Georg Supp aus Freiburg ist einer der Autoren der Exposs-Studie (Extremity pain of spinal source). Ziel der internationalen Forschergruppe ist es, die Prävalenz von ursächlich von der Wirbelsäule kommende Extremitätenbeschwerden zu bestimmen. Der zur Differenzierung verwendete Untersuchungsalgorithmus bei den 369 Patienten entspricht der McKenzie-Untersuchung. Obwohl die Studie noch nicht veröffentlicht ist, konnte Georg Supp mit einigen überraschenden vorläufigen Ergebnissen aufwarten. So hatten z. B. 62 % der Patienten mit Hüftproblemen und 48 % der Patienten Schulterbeschwerden eine kausale Wirbelsäulenpathologie, von denen 77 % keinerlei Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule aufwiesen. Die Patienten der Exposs-Studie wiesen im Vergleich zu denen mit wirklich von der schmerzhaften Extremität herrührenden Beschwerden bei Schmerz, Funktion und Dauer der Behandlung bessere Ergebnisse auf. Max Maier-Lenz aus Freiburg demonstrierte mit seinem Fallbericht den Übertrag von Exposs in die tägliche Praxi und beteiligte auch hier die Teilnehmer am Clinical-Reasoning-Prozess.

  • Motiviert Vertrauen – Patienten mit Vermeidungsverhalten ins Bewegen zurückführen. Der Physiotherapeut Norbert Hindenburg vom Inselspital in Bern ist seit 14 Jahren in der Psychosomatik tätig. Im Mittelpunkt standen Patienten mit chronischen Schmerzen und Angst-Vermeidungs-Verhalten. Der Workshop vermittelte die Vorgehensweise in Screening und Therapie der interdisziplinären, multimodalen Schmerztherapie. Er veranschaulichte die Pathomechanismen und zeigte, wie Physiotherapeuten im ambulanten und klinischen Bereich Angst-Vermeidungs-Verhalten erkennen und abbauen können. Abgerundet wurde sein Vortrag durch die Vorstellung der beiden deutschen Fragebögen „Tampa Scale for Kinesiophobia“ und „Fear Avoidance Beliefs Questionnaire“ welche eine praktikable Klassifikation und Verlaufskontrolle erleichtern.

  • Return to Activity für Rückenpatienten – Ein funktionsbasierter Algorithmus. Der Hoffenheimer Sportwissenschaftler Bernd Steinhoff und der Freiburger Physiotherapeut und Forscher Wolfgang Schoch schlossen mit ihrer Arbeitsgruppe eine klaffende Lücke in der Therapie von Patienten mit Rückenschmerzen. Während es bei Extremitätenschmerzen ein breites Portfolio an Testbatterien und Algorithmen gibt, herrscht für Rückenprobleme komplette Fehlanzeige, wenn es um Funktionstestung und kontrollierten Belastungsaufbau geht. Ihr Projekt „Return to Activity Algorithmus für die Wirbelsäule (RTA)“ baut auf funktionellen, praktikablen Tests auf. Diese ermöglichen die Erfassung des funktionellen Istzustands der Patienten, um gemeinsam mit diesen die Zielsetzung der gewünschten Belastbarkeit realistisch festzulegen. Der RTA kann dabei Sicherheitsnetze in der Belastungssteuerung spannen. Der Algorithmus wurde in Kleingruppen praktisch geübt.

Zurück im Plenum deckte ein McKenzie-Symposium erstmals ein brandaktuelles, berufspolitisches Thema ab: Blankoverordnung und Direktzugang. Arne Vielitz, der durch seinen Bachelor in Holland schon früh für diese Themen sensibilisiert wurde und an der Weiterentwicklung dieser Themen in Deutschland beteiligt ist, begann seine Präsentation mit einem Überblick über den Status quo in Europa. Der Direktzugang ist zwar gemäß internationalen wissenschaftlichen Studien effektiv und wirtschaftlich, in Deutschland aber aktuell nur mittels des sektoralen Heilpraktikers möglich. 2016 wurde von den Gesundheitsministern der Länder ein Modellvorhaben für den Direktzugang beschlossen. Eine zweite Möglichkeit der größeren Autonomie für Physiotherapeuten ist die Blankoverordnung. Von 2011 bis 2017 wurden zwei Modellvorhaben durchgeführt, deren Ergebnisse vorliegen. Eine dieser Arbeiten belegte eine Kostensteigerung durch die Blankoverordnung [3], während die zweite Studie eine Reduktion von Behandlungsdauer und Menge der Einheiten zeigte [4]. Signifikant war bei beiden Arbeiten die höhere Zufriedenheit der Patienten.

Das Symposium war sein Geld voll und ganz wert. Neben den fachlich sehr interessanten Vorträgen erfuhren die Teilnehmer brandneues Wissen einer unveröffentlichten Studie und konnten bei den Workshops teilweise selbst aktiv werden, um das neue Wissen zu verankern. Es gab ausreichend Raum für den Austausch mit Kollegen.

Das 7. McKenzie-Symposium ist für 2020 geplant.