manuelletherapie 2018; 22(05): 200-203
DOI: 10.1055/a-0763-6254
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Leserbrief zu: Beyerlein C. Manuelle Therapie im Kreuzfeuer – Müssen wir unsere Paradigmen überdenken und wie gehen wir mit den neuen Gurus um? manuelletherapie 2018; 22: 104–106

Harry von Piekartz
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Publikationsdatum:
07. Januar 2019 (online)

Gerne möchte ich auf den Beitrag meines Kollegen Claus Beyerlein reagieren. Herr Beyerlein spricht offen über seine ambivalente Erfahrung beim IFOMPT-Kongress 2016 in Glasgow und stellt einen ernsthaften Kritikpunkt zur Diskussion. Ich habe den Kongress in Glasgow ebenfalls besucht und musste tatsächlich feststellen, dass scheinbar ein Paradigmawechsel stattgefunden hat, bei dem sich viele Manualtherapeuten nicht wiedererkennen konnten.

Wurde der IFOMPT-Kongress in Quebec 2012 als ein guter Mix zwischen individuellen Fallstudien, klinischer externer Evidenz und Innovation beurteilt, hatte die britische Kongresskommission des IFOMPT in 2016 scheinbar ein deutlich anderes Ziel: allgemein Bewegung und Lebensqualität zu promoten und das Thema „Schmerz“ mit externer Evidenz zu verbinden. Als Folge wurden namhafte Redner aus der Schmerz- und Kommunikationswissenschaft eingeladen, um möglicherweise so die Besucheranzahl zu erhöhen. Aus diesem Grund war eine Gruppe von –überwiegend britischen – jungen PhD-Kandidaten und Absolventen anwesend, die die Atmosphäre des Kongresses bestimmte (die Herr Beyerlein als die „jetzigen Wissenschaftsgurus“ stigmatisiert).

Aber woher kommt diese Entwicklung? Tatsächlich gilt es zu akzeptieren, dass als Schlussfolgerung vieler Reviews zur Effektivität von Manueller Therapie die traditionelle Manuelle Therapie (überwiegend passive Bewegungen wie Mobilisation und Manipulation am Individuum) weniger effektiv ist als in Kombination mit aktiven Therapien und alleinige passive Anwendungen nicht besser sind als ein Placebo [1], [2], [3]. Damit öffnet die IFOMPT logischerweise auch die Türen für andere Denkmodelle, die psychosoziale Einflüsse und die externe Evidenz unseres professionellen Handelns hinterfragt. Diesen Trend setzten schon beim IFOMPT-Kongress 2000 in Perth die Vorschläge von Gurus der 2. Generation wie Gwenn Jull, Ann Moore und Mark Jones in Gang, indem sie statt des Begriffs „Manual Therapy“ den breiter orientierten Begriff „Musculoskeletal Therapy” verwendeten (wobei nach meiner Ansicht noch besser „Neuromusculoskeletal Therapy“ geeignet wäre) und die Definition von „Musculoskeletal Therapy“ deutlicher anpassten. Allerdings kann dies auch über das Ziel hinausschießen, wie an Herrn Beyerleins Reaktion auf den IFOMPT-Kongress in Glasgow zu erkennen ist, der sich eher auf einem „Schmerzkongress“ als auf dem weltweit größten Kongress für Manuelle Orthopädische Therapie wähnte. Ich bin teilweise seiner Meinung und möchte dies anhand von einigen Beispielen erläutern:

  • Laut Dr. Harriette Wittink, Lektorin an der Hogeschool Utrecht (Niederlande), haben „Hands-on-Techniken” bei langwierigen Rückenbeschwerden im Vergleich zu normalem Bewegen nur ein minimales Outcome. Das übergeordnete Endziel „Lebensqualität“ lässt sich besser durch regelmäßiges Bewegen als mit Manueller Therapie erreichen [3].

  • Dr. Lisa Roberts, Physiotherapeutin und Psychologin, hat durch wissenschaftliche Untersuchungen festgestellt, dass ein Therapeut, der während der Therapie systematisch „lacht“, deutlich bessere Effekte erzielt als mit „Hands-on-Techniken“ ohne systematisches Lachen. Daher erachtet sie die Rolle von „Hands-on-Techniken“ für weniger wichtig [3].

Diese Feststellungen der beiden Physiotherapie-Kollegen, die selbst keine IFOMPT-Ausbildung in Muskuloskeletaler Therapie durchlaufen haben, können für manche ein „Eye-opener”, für andere dagegen eine immense Bedrohung der klassischen Manuellen Therapie darstellen, an die er immer so geglaubt hat.

Eine kurze Reflexion

Sind wir als (internationale) muskuloskeletale Therapiegruppen und Organisationen an den Entwicklungen dieses „Paradigmawechsels“ hin zu überwiegend „Hands-off-Therapien“ und das Berufen auf wissenschaftliche Beweise nicht beteiligt? Waren wir (Manualtherapeuten und ihre Ausbildungsorganisationen) nicht zu lange im passiven Modus und haben versucht, endlos von den Effekten, Reputationen und Denkmodellen zu profitieren, die uns die ersten Gurus wie Grieve, McKenzie, Kaltenborn, Evjenth, Maitland, Mulligan (und viele weitere) hinterließen? Haben wir versäumt, selbst die Wissenschaft zu deuten? Nach welchen klinischen Fragen hätten wir gerne geforscht? Haben wir einige häufig vorkommende Begriffe wie (Kontra-)Indikationen in muskuloskeletaler Therapie aber auch „Mobilisieren“, „Schmerzmanagement“, „Neurodyamik“, „Artrokinematik“, „muskulokeletale oder neuromuskuloskeletale Therapie“ etc. klar beschrieben, wie das von Beyerlein genannte Beispiel von Dr. Peter O‘Sullivans „Hands-on-Techniken”? Klare (inter-)nationale Definitionen zeugen von beruflicher Professionalität und grenzen uns deutlich zu anderen Berufsgruppen ab [6].

Warum ich kein Manualtherapeut bin

Hier äußert Beyerlein seine sehr heikle Feststellung, die aus meiner Sicht viele (erfahrene) Manualtherapeuten lieber nicht wahrhaben möchten, die aber trotzdem existiert und vor der man nicht die Augen verschließen darf. Tatsächlich taucht diese Meinung regelmäßig in sozialen Medien auf und wird ungezwungen geteilt. Laut Beyerlein sind soziale Medien kein anerkanntes und zuverlässiges Kommunikationspodium für die Diskussion derartiger Gedanken. Nach meiner Auffassung begeht Beyerlein wie viele andere erfolgreiche und erfahrene Manualtherapeuten hier einen entscheidenden Denkfehler. Wir haben es seit einigen Jahren mit einer anderen (jüngeren) Generation von Physiotherapeuten der Milleniumgeneration zu tun. Zu deren Eigenschaften gehört, dass sie sich Kenntnisse zwar schneller, aber oberflächlicher aneignen, am liebsten in kürzester Zeit mithilfe des World Wide Web [7]. Detailliertes Diskutieren und das Perfektionieren nicht evidenzbasierter Skills halten sie für weniger „cool”. Aber diese Therapeuten repräsentieren unsere direkte Zukunft und unsere Nachfolger, ob wir wollen oder nicht. Meines Erachtens sollten Weiterbildungsorganisationen umgehend professionell auf diese rasche digitale Entwicklung reagieren, wie dies z. B. bereits viele Osteopathie-Ausbildungsorganisationen tun. Diese werben schon seit einigen Jahren klug und systematisch in Zeitschriften, dominieren in sozialen Medien mit regelmäßigen digitalen Blogs, lassen Patienten posten, wie toll die Behandlung ist und verdeutlichen somit die enorme „Employability“ (Fähigkeit und Bereitschaft, verschiedene Phasen eines Anstellungsverhältnisses zu meistern und dazu seine gesamten Kompetenzen und seine Arbeitskraft laufend den Anforderungen des Arbeitsmarktes anzupassen [8]). Ihre Absolventen schließen mit einem DO (Doktor in Osteopathie) ab, können selbstständig und höhere Vergütungen abrechnen und werden vom Gesundheitssystem „umarmt“.

Den Organisationen für muskuloskeletale-Therapie fehlt in den deutschsprachigen Ländern zudem das Bewusstsein der sogenannten Employability. Eine berechtigte Frage vieler Kollegen lautet: Was bringt es mir, ein OMT-anerkannter Manualtherapeut zu sein, und was bekomme ich zurück, wenn ich in diese aufwendige Ausbildung investiere? Leider können deutsche Physiotherapeuten mit einem OMT-Diplom nicht wie z. B. ihre niederländischen Kollegen einen ca. 30 % höheren Tarif abrechnen. Dennoch gibt nicht immer das Einkommen den Ausschlag für die Qualifizierung zum Manualtherapeuten. In Großbritannien liegt der Verdienst von Manualtherapeuten nicht höher als der von allgemeinen Physiotherapeuten, und trotzdem ist die Zahl der IFOMPT-Absolventen hoch [9]. Möglicherweise hat das damit zu tun, dass laut einer prospektiven Studie der britischen Musculoskeletal Association of Chatered Physiotherapists (MACP) OMT-Absolventen nach 5–10 Jahren eine deutlich bessere Arbeitsstelle fanden und eine höhere Arbeitszufriedenheit aufwiesen [9]. Um die mukuloskeletale Therapie auch für deutsche Studenten und Kursteilnehmer wieder „attraktiv“ zu machen, wären hier vergleichbare Daten interessant. Dies stellt sicher eine Herausforderung für die Restrukturierung der Organisationen und Schulungsanbietern für Manuelle Therapie in Deutschland dar.

Hat muskuloskeletale Therapie eine Zukunft?

Muskuloskeletales Assessment und die Behandlung durch OMT-geschulte Kollegen gilt in den meisten Ländern mit einem IFOMPT-Siegel als spezialisierte Physiotherapieform mit deutlichem Kompetenzprofil und nimmt dadurch einen speziellen Platz im Gesundheitssystem ein. Die deutschsprachigen Länder sind hier zwar noch im Rückstand, aber bereits auf einem guten Weg, die muskuloskeletale Therapie ins richtige Licht zu rücken. Sie sind IFOMPT Mitglieder und haben mit der manuelletherapie eine eigene Fachzeitschrift. Historisch gesehen kommen sie aber aus den Heil-/Hilfsberufen und bieten keine akademische Ausbildung, wie die meisten anderen europäischen Länder.

In Bezug auf Beyerleins nachvollziehbares Gefühl der Anti- oder Semi-Identifikation mit unserem Beruf gilt es folgende Punkte zu befolgen, um das einzigartige Fachgebiet der muskuloskeletalen Therapie aufzupeppen, wieder „attraktiv“ zu machen und nicht der Konkurrenz (z. B. Osteopathie) zu überlassen:

  • Die klinischen Gurus der ersten Stunde respektieren, aber nicht vergöttern, sondern kritisch betrachten, wie wir das ja auch mit unseren persönlichen Gurus wie z. B. unseren Eltern machen.

  • Die derzeitigen wissenschaftlichen Gurus akzeptieren und mit ihnen kooperieren, aber ebenfalls kritisch betrachten und mit Forschungsfragen aus dem klinischen Feld konfrontieren. Beide Gebiete brauchen einander und haben das gleiche Endziel: Professionalisierung der muskuloskeletaler Therapie und dadurch bessere Patientenversorgung.

  • Innovative Strömungen in der muskuloskeletalen Therapie begrüßen, aber durch systematische Forschung und Konsensfindung relativieren, ob Neuheiten, wie z. B. kraniale Mobilisation, Kinesiotaping, Echografie und Dry Needling (nicht in Deutschland, aber in anderen europäischen Ländern) ein Bestandteil von muskuloskeletaler Therapie sind oder nicht.

  • Spezifische muskuloskeletale Terminologie kritisch hinterfragen und eventuell neu definieren. Hier ist die IFOMPT die leitende Organisation und hat den Startschuss bereits gesetzt. National lässt sich dies noch durch Arbeitsgruppen verstärken. OMT Deutschland kann hier eine wichtige Rolle spielen.

  • Auf die Wünsche und Bedürfnisse der neuen Generation von Physiotherapeuten (Curricula und Kommunikationsarten anpassen) eingehen, z. B. in Form neuerer Marketingkonzepte auf verschiedenen Niveaus (vor allem auch soziale Medien als Werbeplattform nutzen).

  • Wissenschaft systematisch in die Physiotherapie- und Muskuloskeletale-Therapie-Ausbildung integrieren, und zwar folgendermaßen unterteilt:

    • Konsumptive Wissenschaft: Wissenschaft begreifen lernen, für die (eigenen) Bedürfnisse interpretieren und dadurch selbstständiges therapeutisches Handeln entwickeln; bestehende Konzepte konstruktiv kritisieren und Forschungsfragen formulieren;

    • Aktive Wissenschaft: Selbstständig Wissenschaft in muskuloskeletaler Therapie betreiben, international Forschungsergebnisse veröffentlichen und damit verbreiten.

Ob wir wollen oder nicht, brauchen wir die Wissenschaft zur Verbesserung unserer Einschätzung von Outcomes, um uns so von anderen Spezialisten im neuromuskuloskeletalen System abzugrenzen. Muskuloskeletale Therapie ist ein junger Beruf mit einer eigenen Domäne (Clinical Research and Practice) und keine Ansammlung von Techniken [10]. Dabei sollten besonders die individuellen Patienten nicht vergessen werden, indem die Wissenschaft bestimmt, welche Behandlung sie benötigen. Dr. Roger Kerry trug beim IFOMPT-Kongress in Glasgow T-Shirts mit deutlichen Botschaften: „N = 1, Statistics don’t get me“, und „One size does not fit all“. Damit verdeutlichte er, dass jeder Mensch einzigartig ist und sich sein individueller Zustand nicht durch statistische Auswertungen bestimmen lässt, weil eine klassifizierte Gruppe viele individuelle Variationen aufweisen kann.

Im Jahr 2020 findet in Melbourne der nächste IFOMPT-Kongress statt: „Olympische Spiele für muskuloskeletale Therapie“. Sicher werden auch die australischen Kollegen – seit vielen Jahren immer wieder Vorreiter unserer Berufsgruppe – wieder andere Auffassungen vorstellen als 2016 in Glasgow. Sie werden die „alten“ Gurus zwar respektieren, aber auch hinterfragen. Allerdings wird es auch höchste Zeit, dass sich die deutschsprachigen muskuloskeletalen Gruppen wie Australien, Großbritannien und die USA als seriöse Partner auf dem internationalen Podium präsentieren. Der richtige Weg ist zwar eingeschlagen, aber das Ziel ist noch weit. Er ließe sich beschleunigen, indem sich Deutschland als Austragungsort für den IFOMPT-Kongress 2024 bewirbt. Dies wäre ein enormer „Boost“ für die deutschsprachige muskuloskeletale Therapie. Die oben genannten Vorschläge könnten zum Erreichen dieses Zieles beitragen. Ich würde mich freuen, wenn Claus Beyerlein dann in der wissenschaftlichen Kommission säße.