neuroreha 2018; 10(04): 200
DOI: 10.1055/a-0750-6218
Buchbesprechung
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Buchbesprechung: Theoriebildung im Überblick

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
07. Dezember 2018 (online)

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Auf dieses Fachbuch zum Stand der Theoriebildung hat die deutschsprachige Physiotherapie lange gewartet, ohne es vielleicht zu wissen. Dem internationalen Autorenteam ist es überzeugend gelungen, ein vermeintlich eher trockenes Thema wie das der Theoriebildung in der Physiotherapie mit deren Bedeutung für die Praxis mittels einer gut gegliederten Struktur und klaren Sprache leserfreundlich zu präsentieren.

Das seit 2015 gereifte Werk entstand unter dem Einfluss regelmäßiger Treffen im sogenannten Berliner Salon, um drängende Fragen zu den Herausforderungen und Weiterentwicklungen für eine Gesundheitsversorgung im 21. Jahrhundert zu diskutieren und zu reflektieren und um zeitgemäße Antworten für die Physiotherapie auf diese Fragen zu finden. Fragen wie zum Beispiel:

  • Welche Rolle wird und will die Physiotherapie dabei für sich einnehmen?

  • Wo wird sie sich gegenüber anderen Professionen und Disziplinen im Gesundheitssystem künftig positionieren?

  • Was sind ihre zentralen Kernkompetenzen, die sie sich selbst zuschreibt und die ihr insbesondere auch durch andere zugeschrieben werden?

  • Welche Bedürfnisse und Bedarfe gilt es von Seiten der Patientinnen zu adressieren, wenn es um eine patientenorientierte, zunehmend individualisierte Versorgung geht?

  • Wie definieren wir dabei, um was es uns in der Physiotherapie eigentlich geht? Was macht die Physiotherapie von gestern, heute und vor allem von morgen aus?

Die gut verständliche Aufarbeitung bereits vorliegender, allerdings unter der Physiotherapie-Community hierzulande oft noch nicht besonders weit verbreiteten und eher unbekannten Theorien der Physiotherapie sowie die kapitelweise aufgearbeitete Darstellung liefern einen perspektivenreichen und gleichzeitig kompakten Überblick über verschiedene nationale wie auch internationale Theorien und Modelle, die einen wesentlichen Beitrag zur Theoriebildung in der deutschsprachigen Physiotherapie leisten. Dabei nehmen die Autoren verschiedene Sichtweisen unter anderem aus der Pädagogik, der Ethik wie auch der Versorgungsforschung ein, wobei die Autoren darauf Wert legen, sowohl die Stärken als auch die Schwächen der einzelnen Theorien anschaulich und argumentationsreich aufzuzeigen.

Das eindrückliche Vorwort von Cheryl Cott sowie das Kapitel von Nicholls und Gibson zu „The body and physiotherapy“ bereichern dieses Buch mit ihrem historischen und internationalen Blick auf die Theorieentwicklung im deutschsprachigen Raum ganz maßgeblich. Darüber hinaus haben die Herausgeber keine Mühe gescheut, zu diesem ehrwürdigen Beitrag von Nicholls und Gibson einen erweiterten Kommentar aus dem Jahr 2010 aus Physiotherapy, Theory and Practice für dieses Buch ins Deutsche zu übersetzen, um damit für eine breite Leserschaft erreichbar zu sein.

Wie es auch die Autoren am Anfang des Buches deutlich machen, kann so ein Buch nur schwer allumfassend sein. Um die Perspektivenvielfalt für den deutschsprachigen Raum weiter auszubauen, wäre eine Ausdehnung der Beiträge auf Österreich und die Schweiz vorteilhaft(?). Auch Beiträge, wie beispielsweise der von Shirley A. Sahrmann „The Human Movement System: Our Profession Identity“, erschienen 2014 in Physical Therapy, hätte gut darin Erwähnung finden können, um zu den genannten Fragestellungen einschließlich ihrer Vision aufzuzeigen, wie sich die Physiotherapie bei einer sich wandelnden Gesellschaft im Fokus von Bewegung künftig weiterentwickeln könnte.

Dem an der Wissenschaft wie auch an der Praxis interessierten Leser wird mit diesem Buch deutlich, welche Errungenschaften in der Theoriebildung der Physiotherapie der letzten ca. 100 Jahre gelungen sind, aber auch, welche Entwicklungsbedarfe insbesondere im deutschsprachigen Raum noch bevorstehen, die es gilt aufzugreifen. Rundum ein gelungenes Werk, das die Lust an der Theorieentwicklung weckt. Danke für dieses so wichtige Buch für die deutschsprachige Physiotherapie!

Dr. Andrea Glässel, Physiotherapeutin und Gesundheitswissenschaftlerin, Professorin für Interprofessionelle Zusammenarbeit und Kommunikation am Institut für Gesundheitswissenschaften (IGW) an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur

FAZIT

Dieses Buch bietet sowohl dem eher theoriegeleiteten Wissenschaftler als auch dem eher am Nutzen orientierten Praktiker die Möglichkeit zu erkennen, dass es sich bei Theorieentwicklung um eine Art Koexistenz handelt, bei der die Theorie die Praxis, aber auch die Praxis die Theoriebildung weiterbringt.