manuelletherapie 2018; 22(03): 104-106
DOI: 10.1055/a-0628-8521
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Manuelle Therapie im Kreuzfeuer – Müssen wir unsere Paradigmen überdenken und wie gehen wir mit den neuen Gurus um?

Claus Beyerlein
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Publication Date:
20 July 2018 (online)

Wer Gast beim alle 4 Jahre stattfindenden IFOMPT-Kongress 2016 in Glasgow war, konnte den Eindruck gewinnen, Teilnehmer einer „Schmerzkonferenz“ zu sein. Ein Großteil der Präsentationen betraf nicht „spezifisch“ Manuelle Therapie, sondern beschäftigte sich mit Schmerzmechanismen und Kommunikation mit den Patienten – wohlgemerkt auf dem weltweit größten Kongress für Orthopädische Manuelle Therapie. Manuelle Therapie, einst für Dekaden die „sexy“ Behandlungsmethode schlechthin, scheint vorübergehend auf dem absteigenden Ast zu sein. Wir sollten sie dennoch nicht durch die gerade verfügbare „en-vogue“-Wissenschaft oder den „Behandlungshype des Tages“ ersetzen [1], [2].

Müssen wir den Wert der Manuellen Therapie neu diskutieren und erkennen, dass wir nicht immer verstehen, welchen Wirkmechanismen wir den Erfolg einer Behandlung zuschreiben?

Manualtherapeuten haben eine große Vielzahl an Werkzeugen in ihrem Behandlungskoffer. Die Kunst liegt darin, das Werkzeug zu benutzen, welches für den jeweiligen Patienten am besten funktioniert – „Not one size fits all“!

Bestimmt können wir alle darin übereinstimmen, dass die richtige Behandlung diejenige ist, die den Patienten den größtmöglichen Nutzen und den geringsten Schaden bringt. Es gibt Evidenz dafür, dass Manuelle Therapie als Bestandteil des konservativen Managements von Patienten mit muskuloskeletalen Beschwerden zu einer kosteneffektiven Verbesserung in Bezug auf Schmerz, Funktion und Patientenzufriedenheit führt [3], [4], [5]. Allerdings wählen verschiedene klinische Experten auch unterschiedliche Behandlungsansätze, um zu einem gewünschten Ergebnis zu kommen. Das ist die Individualität von Manueller Therapie und nicht mit einer Studie unter Laborbedingungen zu vergleichen.

„Confirmation Bias“ (Dieser stellt einen wesentlichen Aspekt der selektiven Wahrnehmung dar. Ursache für diese Bestätigungstendenz ist auch das menschliche Gehirn, das die Tendenz hat, neue Informationen immer so zu interpretieren, dass sie bestehende Vorannahmen unterstützen) ist real, und wir müssen den Placebo-Effekt als vorhandenen und wichtigen Mechanismus der Manuellen Therapie konstatieren. Übrigens ist dieser Effekt immer auch ein Mechanismus von Therapie im Allgemeinen und nicht exklusiv für Manuelle Therapie. Diese unspezifischen Faktoren sind bei jeder Behandlung präsent. Sie bei der manualtherapeutischen Behandlung unberücksichtigt zu lassen, wäre gleichbedeutend mit dem Vorschlag, keine Behandlung sei ebenso effektiv [6].

Manuelle Therapie war für Jahrzehnte ein großer und wichtiger Teil innerhalb der Physiotherapie. Dennoch macht sich in den letzten Jahren eine spürbare Verlagerung weg von Manueller Therapie hin zur Befundung und Behandlung im psychosozialen Rahmen bemerkbar. Stichwort: Die Diskussion, besonders in den sozialen Medien zu Hands-on bzw. Hands-off, aber dazu später. Das Ausmaß dieser scheinbaren Verlagerung sehe ich allerdings kritisch, da wir meines Erachtens keinen ausgewogenen Blick auf die Thematik haben.

Über viele Jahre (angefangen Ende der 80er-Jahre, Anfang der 90er-Jahre) gab es nur sogenannte Manuelle-Therapie-Experten, die uns im klinischen Alltag leiteten. In letzter Zeit wurden die klinischen Experten durch sogenannte Wissenschafts-Gurus ersetzt. In beiden Fällen hatten bzw. haben diese sogenannten Experten einen starken Glauben an das, was sie tun. Vielleicht erklärt dies, warum wir von einer zur anderen Ideologie springen.

Früher war alles so einfach! Zunächst haben wir die Gurus in Manueller Therapie bewundert. Wir wollten genauso sein wie sie, ausgestattet mit „übermenschlichen“ Palpationsfähigkeiten und ihrem Erfolg im Management von Patienten. Üblicherweise präsentierte sich ein Patient mit muskuloskeletalen Schmerzen, wir identifizierten behandelbare Dysfunktionen und behandelten diese mit Manueller Therapie und Übungen, um die Lebensqualität der Patienten zu verbessern [7]. Wir wollten nicht wahrhaben, dass Manuelle Therapie auch Limitierungen hat.

Über die Zeit begann das Bild zu bröckeln. Wir erkannten, dass die Gurus von damals einen starken Glauben an ihre klinische Erfahrung hatten, aber nicht alle Patienten von Manueller Therapie profitierten. Also wandten wir uns den Wissenschafts-Gurus zu. Auch da mussten wir nach kurzer Zeit erkennen, dass die Wissenschaftler häufig extreme Vorstellungen bezüglich der Evidenz in der Wissenschaft hatten. Wissenschaftler, die evidenzbasierte Praxis propagieren, sind an Mittelwerten und Signifikanzniveaus, aber nicht an den „Ausreißern“ interessiert. In der täglichen Praxis haben wir allerdings häufiger mit den Ausreißern zu tun, die im Bereich der Wissenschaft allerdings keine Rolle spielen. Das ist die Krux zwischen wissenschaftlichen Studien (Laborbedingungen, Ein- und Ausschlusskriterien, etc.) und der klinischen Praxis. Darüber hinaus ignorieren Wissenschaftler häufig die Werte der Patienten und legen weniger Wert auf die klinische Expertise, die aber einen „geschickten“ Kliniker ausmacht.

Radikalisierung ist gefährlich und hat weder in der Religion noch in der Physiotherapie bzw. Manuellen Therapie etwas zu suchen. Die Gefahr mit Gurus – in diesem Fall der Manuellen Therapie oder der Wissenschaft – besteht in ihrem Potenzial, die Profession zu spalten. Aktuell ist das sehr stark in den sozialen Medien zu beobachten. Einige wenige benutzen diverse Plattformen, um die Manuelle Therapie zu entzweien. Sie schlagen sogar vor, Manuelle Therapie als Behandlungsform aufzugeben. Im Internet tauchen Blogs auf wie „Warum ich kein Manualtherapeut bin“ [8] oder „Manuelle Therapie ist Scheiße“ [9].

Ein anderes Beispiel ist die vor über 20 Jahren ausgerufene Revolution um die „segmentale Rumpfstabilisation“. Die veränderte Aktivierung der tiefen Rumpfmuskeln bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen wurde zum Anlass genommen, um scheinbar wissenschaftlich belegt aggressiv Übungen zur segmentalen Stabilisation an den Mann zu bringen. Wir haben uns von den Wissenschafts-Gurus zu schnell beeinflussen lassen, denn heutzutage ist segmentale Stabilisation Manueller Therapie oder einem abgestuften Übungsprogramm langfristig nicht überlegen. Nachdem diese Diskussion nun abgeflaut ist, kommt jetzt eine Neue: Hands-on oder Hands-off in der Behandlung von Patienten mit muskuloskeletalen Beschwerden? Ich nehme es vorweg: die Wahrheit liegt in der Mitte!

Dazu passend ein Tweet von Peter O‘Sullivan aus dem Jahr 2016 zum Thema „Hands-on versus Hands-off in der Behandlung von Schmerzen: „Ich habe Gerüchte gehört, dass Menschen denken, ich sei im Hands-off-Camp. Für die Akten: ich fasse ALLE meine Patienten an. Hands-on spielt eine gewichtige Rolle bzgl. menschlicher Berührung, die Folgendes beinhaltet: Bestärkung, Fürsorge, Empathie, Güte und Sicherheit. Hands-on gibt ein Feedback und Aufschluss über die Sensitivität des Gewebes, der Muskelspannung, dem Erlernen, sich mit Vertrauen zu bewegen und Bedrohung durch den Schmerz abzuwenden. Hands-on faszilitiert die Entspannung des Körpers, die Bewegung sowie die Angstreduktion. In einigen Fällen kann Hands-on auch zur Schmerzlinderung benutzt werden oder um Verhaltensänderungen herbeizuführen […]. Lasst uns umdenken, wie wir „Hands-on“ verstehen und definieren“ [10].

Hands-on darf nicht heißen, dass ich den Patienten erkläre, „einen Wirbel wieder hineinzudrücken“ oder ihn von rein passiven Therapiestrategien abhängig zu machen. Aber das Ziel der Manuellen Therapie kann schon sein, einen „Türöffner“ zu bieten, der eine Veränderung im neuromuskulären System erreicht, z. B. im Sinne der absteigenden Hemmung. Studien haben gezeigt, dass Manuelle Therapie für einen mechanischen Stimulus sorgt, der über neurophysiologische Mechanismen und Reflexe das neuromuskuloskeletale System beeinflusst [11], [12], [13]. Manuelle Therapie hat seine Berechtigung, vorausgesetzt, sie wird adäquat eingesetzt. Dazu müssen wir die moderne Schmerzforschung, neurophysiologische und psychologische sowie unspezifische Faktoren seitens der Patienten in unseren manualtherapeutischen Behandlungsansatz integrieren, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen [14].

Schwarz-weiß-Denken ist zwar einfach, hat aber mit der Realität in der klinischen Praxis relativ wenig zu tun. Allerdings scheinen einige Kollegen wenig mit dem Gesetz der Balance zu tun haben zu wollen. Manuelle Therapie nicht einzusetzen, damit zu begründen, „es gäbe keine Studie dazu“ oder die „Behandlung sei nicht evidenzbasiert“, ist zu kurz gedacht. Evidenzbasiert heißt nämlich nicht nur, es gibt einen wissenschaftlichen Nachweis, sondern evidenzbasiertes Behandeln beinhaltet neben der Wissenschaftlichkeit auch die Erfahrungen und „Skills“ der Therapeuten und die Werte und Vorstellungen der Patienten. Wenn wir jungen Kollegen gegenüber allerdings vermitteln, eine Behandlung XY ist nur dann sinnvoll, wenn es eine Studie dazu gibt, dann können wir den Laden bald dicht machen. Deswegen sollten wir „radikalen“ Tendenzen, die ausschließlich eine Hands-off-Therapie einfordern, keinen Raum geben, denn sie unterwandern unsere Profession.

Ich zitiere dazu Eddy Vetter im Editorial von Karas et al. [1]: „[…] don‘t criticize what you can‘t understand. We should celebrate our profession and fellow professionals and get back to the work of elevating our profession, even when success may come from nonspecific factors that don‘t support our clinical equipoise“.

Der Dialog und die Debatte um die Manuelle Therapie auf Konferenzen, in der Klinik, in Fachzeitschriften und im Klassenzimmer (besser nicht in den sozialen Medien, da diese dafür völlig ungeeignet sind) führen zu einer professionellen Reflexion des eigenen Handelns und einer persönlichen Weiterentwicklung. Wir müssen uns weiterentwickeln und sinnlose Diskussionen über „welche Therapie ist besser?“ hinter uns lassen. Stattdessen müssen wir respektieren, dass unsere Paradigmen von Zeit zu Zeit ein Update benötigen und jeder Patient individuell ist und deshalb eine individuelle evidenzbasierte und multifaktorielle Therapie benötigt. Wenn wir als Physio- bzw. Manualtherapeuten den Patienten keine evidenzbasierte und patientenzentrierte Behandlung anbieten, dann macht es jemand anders. Und vielleicht ist das auch schon so …!

Ich ermutige Sie dazu, Ihre eigenen Überzeugungen auf den Prüfstand zu stellen, sie zu evaluieren und sich dann selbst zu fragen, ob sie verschiedene Perspektiven akzeptieren können. Ich freue mich auf eine lebhafte und konstruktive Diskussion.