Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2018; 23(03): 109-110
DOI: 10.1055/a-0626-1797
Herausgeberkommentar
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gesundheitsökonomie vor alten und neuen Herausforderungen: ordnungsökonomische Fundierung nötiger denn je

Health economics – old and new challenges
Herbert Rebscher
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Publication Date:
26 June 2018 (online)

Den Ritterschlag empfing das Fach im Jahre 1985: Unter dem Vorsitz von Gérard Gäfgen widmete der Verein für Socialpolitik seine Jahrestagung in Saarbrücken dem Thema „Ökonomie des Gesundheitswesens“. Im März beging die Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie (dggö) anlässlich der Jahrestagung in Hamburg ihr 10jähriges Bestehen. Der diesjährige Gäfgen-Preisträger, J.-Matthias Graf von der Schulenburg, skizzierte in einem eindrucksvollen Festvortrag die Genese des Faches Gesundheitsökonomie in Deutschland. Er zeichnete das Bild von den ersten deskriptiven Skizzen, den ordnungsökonomischen Analysen, den Einzeluntersuchungen zu den Teilmärkten (insbes. der Arzneimittel- und der stationären Versorgung) bis zu den immer stärker spezialisierten und formalisierten Evaluationstechniken und Kosten-Nutzen-Kalkülen nach.

Wie immer, wenn sich wissenschaftliche Disziplinen differenzieren und spezialisieren, droht die Gefahr, dass der Blick auf das „Große Ganze“, auf das „System“ und seine Interdependenzen verloren geht. Dabei ist der Gegenstandsbereich der Gesundheitsökonomie, nämlich die medizinische Versorgung der Patienten, selbst Opfer dieser Entwicklung. Die auch gesundheitsökonomisch begründeten Forderungen nach Koordination, Kooperation und Kommunikation im Rahmen integrierter Versorgungsmodelle folgen ja gerade der Analyse, dass die arbeitsteilige Zusammenarbeit hochspezialisierter Einzelakteure in Bezug auf die Versorgung oft multimorbider und älterer Patienten eine konkrete Struktur, eine gemeinsame Strategie braucht.

Nicht anders braucht auch die Gesundheitsökonomie wieder den stärkeren Fokus auf das Gesundheitssystem in all seinen Teilen und auf die wechselseitigen Abhängigkeiten der Teile untereinander. Die „Interdependenz der Ordnungen“ (W. Eucken) sollte wieder stärker in den Blick genommen werden. Da ist die Gesundheitsökonomie in den letzten Jahren merkwürdig leise geworden. Die aktuellen gesundheitspolitischen Reformen und die angekündigten Reformvorhaben benötigen dringend diese Begleitung: Politik ist stark in der Lösung konkreter Probleme, aber erschreckend schwach in der ordnungspolitischen Fundierung ihres Tuns. Die Genese der Entwicklung einer solidarischen Wettbewerbsordnung zeugt von der ordnungsökonomischen Unsicherheit und der Ignoranz dieser Zusammenhänge.

Die aktuelle Themenliste, die dieser Fundierung bedarf, ist lang: Sie reicht von der fairen Finanzverfassung im Rahmen einer Reform des Risikostrukturausgleichs, vom Charakter von Beitragssätzen im Wettbewerb und den staatlichen Einflussnahmen darauf, von den Anreizen zur Innovationsförderung über einen zentralen und gar nicht wettbewerblichen Innovationsfonds, über die innere Logik eines DRG-Systems (Stichwort: Pflegepersonalkosten) bis hin zu den methodischen Fragen einer Nutzenbewertung im Arzneimittel- und Medizinproduktebereich. Der zunehmend sorglosere Umgang mit modernen Formen rein paternalistischer Anreize, Stichwort: Nudging, auch anlässlich der dggö-Jahrestagung, gibt zu denken. Auch der aktuelle Sonderbericht des Bundesversicherungsamtes zum Wettbewerb in der Krankenversicherung verdient eine gesundheitsökonomische Replik, zumal er eng (aufsichts-)rechtlich angelegt ist und ohne jede ökonomische Fundierung auskommt. Soweit die alten Herausforderungen.