Diabetologie und Stoffwechsel 2018; 13(S 02): S97-S107
DOI: 10.1055/a-0598-3691
DDG-Praxisempfehlung
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Glukosemessung und -kontrolle bei Patienten mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes

Lutz Heinemann
1   Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie der Deutschen Diabetes Gesellschaft e.V., Ulm
,
Dorothee Deiss
1   Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie der Deutschen Diabetes Gesellschaft e.V., Ulm
2   Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie e.V., Münster
,
Thorsten Siegmund
1   Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie der Deutschen Diabetes Gesellschaft e.V., Ulm
,
Sandra Schlüter
1   Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie der Deutschen Diabetes Gesellschaft e.V., Ulm
,
Michael Naudorf
1   Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie der Deutschen Diabetes Gesellschaft e.V., Ulm
,
Simone von Sengbusch
2   Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie e.V., Münster
,
Karin Lange
2   Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie e.V., Münster
,
Guido Freckmann
1   Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie der Deutschen Diabetes Gesellschaft e.V., Ulm
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Publication History

Publication Date:
31 October 2018 (online)

Überblick

Diabetes mellitus ist gekennzeichnet durch ausgeprägte Glukoseschwankungen infolge fehlender oder insuffizienter physiologischer Regelungssysteme. Ziel der Diabetestherapie ist es, diese Schwankungen durch Gabe von Insulin, Antidiabetika oder durch Lebensstiländerungen zu begrenzen. Regelmäßige Glukosemessungen sind zur Verlaufskontrolle der Diabetestherapie unverzichtbar, um entweder sofortige Entscheidungen zur geeigneten Dosierung der antidiabetischen Medikation oder zur Zufuhr von Kohlenhydraten zu treffen. Die retrospektive Analyse der Stoffwechsellage durch die HbA1c-Messung dient vor allem der Abschätzung des Langzeitrisikos für mikro- und makrovaskuläre Komplikationen. Der HbA1c-Wert gibt aber keinen Aufschluss über Glukoseschwankungen, die zu akuten Komplikationen wie Hypoglykämien und Ketoazidosen führen.

In den vergangenen Jahrzehnten erfolgten die Stoffwechselselbstkontrollen durch Messung der kapillären Blutglukose mit entsprechenden Messsystemen („Blutzuckermessgeräte“; SMBG-Systeme). Diese wurden über die letzten 30 – 40 Jahre hinweg sowohl in Bezug auf Größe und Handhabbarkeit als auch in analytischer Hinsicht wesentlich weiterentwickelt. So erreichen einige Systeme inzwischen eine Messgenauigkeit, die an die von Laborsystemen heranreicht. SMBG hat aber den entscheidenden Nachteil, nur einen Glukose-Einzelwert anzuzeigen – ohne gleichzeitige Aussagen über die Änderungsrate und -geschwindigkeit (Anstieg, Abfall) der Glukose zu machen. Dies kann ungerechtfertigte Therapieentscheidungen zur Folge haben, z. B. durch Gabe von Korrekturinsulin bei rasch abfallender Glukose. Außerdem ist die Zahl der SMBG-Daten von der Möglichkeit und der Entscheidung des Patienten abhängig, die Messung durchzuführen. Infolgedessen bleiben z. B. häufig nächtliche oder asymptomatische Hypoglykämien unentdeckt.

Seit etwa 15 Jahren stehen Systeme zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) in der interstitiellen Gewebsflüssigkeit (ISF) zur Verfügung: Während Messungen mit SMBG-Systemen unter Alltagsbedingungen bei Erwachsenen durchschnittlich 4- bis 7-mal täglich Messwerte zur Überwachung des Glukoseverlaufs zur Verfügung stellen, liefern CGM-Systeme einen vollständigen Überblick über 24 Stunden i. d. R. mit Messwerten in 5-minütigen Abständen. Sie zeigen Schwankungen in den Glukosekonzentrationen an, die Folge nicht genau vorhersagbarer und nur bedingt beeinflussbarer Stoffwechselprozesse sind, wie z. B. Mahlzeiten, körperliche Aktivitäten, Stress, Krankheit und diverse andere. Im Sinne einer besseren Glukosekontrolle ist eine zeitnahe Kenntnis des aktuellen Glukosewerts und seiner Dynamik eine wichtige Information, um diese optimieren und gleichzeitig akute Komplikationen vermeiden zu können. Wenn auch bei etlichen Patienten mit ausreichend häufigen SMBG-Messungen eine befriedigende Glukosekontrolle möglich ist, können durch CGM die Teilhabe am Leben gefördert und psychische Belastungen reduziert werden. Dies gilt insbesondere für Kinder mit Typ-1-Diabetes, die noch nicht in der Lage sind, körperliche Symptome, z. B. einer Hypoglykämie, zu identifizieren. Die Zahl der täglich erforderlichen Blutglukosemessungen liegt bei ihnen oft über 20 – mit entsprechender Belastung der Kinder und Eltern. Dies gilt insbesondere für regelmäßige nächtliche Messungen. CGM-Systeme stellen zudem eine technische Innovation dar, die die zukünftige Etablierung von Automated Insulin Delivery-Systemen (AID-Systemen) erst ermöglicht.

Für Menschen mit Diabetes war in der Vergangenheit das Ausüben von Berufen erschwert, bei denen sie im Fall einer Hypoglykämie sich selbst und andere Menschen hätten gefährden können, z. B. Pilot, Busfahrer oder Polizist. Durch CGM-Systeme kann eine Teilhabe am Arbeitsleben mit Aufrechterhaltung der Erwerbsfähigkeit erreicht werden (gesetzlich vorgesehen im SGB IX § 33 und gesamtgesellschaftlich notwendig und sinnvoll). In der Praxis werden Systeme eingesetzt, die die Messergebnisse unmittelbar anzeigen, die sogenannten Real-time-CGM-Systeme (rtCGM). Aktuelle Glukosewerte werden numerisch und grafisch dargestellt, ebenso Glukosetrends mit Angabe der Richtung und der Änderungsgeschwindigkeit des Glukosewerts. Zusätzliche Sicherheit entsteht durch programmierbare Alarme, die vor Hypo- und Hyperglykämien warnen. Der Vorteil der rtCGM-Systeme ist aber nur bei Patienten nachgewiesen, die diese kontinuierlich zur Optimierung ihrer Therapie nutzen.

Die aktuellen Generationen der rtCGM-Systeme besitzen im Vergleich zu Systemen früherer Generationen eine erheblich verbesserte Messgenauigkeit. Davon unabhängig kann es aufgrund einer physiologischen zeitlichen Verzögerung zwischen Blut- und Gewebeglukosekonzentration vor allem bei raschen Anstiegen und Abfällen im Glukoseverlauf zu Abweichungen zwischen den Messwerten in den beiden Kompartimenten kommen. Die rtCGM-Systeme beruhen meist auf sogenannten „Nadelsensoren“, die eine unmittelbare Anzeige der gemessenen Glukosewerte auf speziellen Empfangs- und Anzeigegeräten („Handhelds“), Insulinpumpen oder über eine App auf einem Smartphone ermöglichen.

Als Alternative zu den Nadelsensoren, die im einwöchigen Rhythmus ausgetauscht werden müssen, steht zurzeit ein implantierbarer Langzeitsensor zur Verfügung (Nutzungsdauer derzeit 6 Monate). Eine weitere, vielfach verwendete Variante stellt ein Nadelsensorsystem dar, bei dem zum Anzeigen/Auslesen der Messwerte das Lesegerät in die Nähe des Sensors gehalten werden muss (intermittent scanning CGM; iscCGM). Nach dem Scannen werden der aktuelle Glukosewert und retrospektiv die kontinuierlichen Glukosedaten der letzten 8 Stunden angezeigt. Dieses System muss nicht kalibriert werden. Ein weiterer Vorteil besteht in geringeren Kosten, der Nachteil ist das Fehlen von Alarmen (kommen erst nach dem Scannen). Durch häufiges Scannen kann bei der bisherigen Generation die Zahl an Hypo- und Hyperglykämien reduziert werden, die fehlende Alarmfunktion führt jedoch dazu, dass in Phasen geringer Scanfrequenz (insbesondere in der Nacht) Hypo- und Hyperglykämien wie bei der SMBG zu spät oder gar nicht bemerkt werden.

Im Folgenden werden die verschiedenen Optionen zur Glukosemessung unter Verwendung einer einheitlichen Gliederungsstruktur erläutert. Der Entscheidungsbaum in Abb. 1 vermittelt einen raschen Überblick, welches Glukosemesssystem für den individuellen Patienten am besten geeignet erscheint. Dabei ist die Ausgangsituation, dass der Patient in die Praxis/Klinik kommt und es gilt, sein medizinisches Problem zu erkennen und die verschiedenen Optionen der Glukosemessung mit ihm zu besprechen. Die Entscheidung für eine Option sollte primär durch medizinische und soziale Indikationen (z. B. Hypoglykämien, Schwangerschaft, berufliche und private Lebenssituation) geleitet werden, nicht durch ökonomische Aspekte. Dabei stellt SMBG die erste Stufe dar, die jeder Patient unbedingt beherrschen sollte. Erst dann sollte eine Umstellung auf rtCGM/iscCGM erfolgen. Die Entscheidung darüber, welche der beiden derzeit angebotenen CGM-Optionen geeignet ist, hängt von den individuellen Bedingungen des Patienten ab. Eine intensive Schulung in der jeweiligen Diabetestherapieform ist Vorbedingung und für die CGM-Version begleitend erforderlich. Bei mangelnder Nutzung der Möglichkeiten von rtCGM stellt der Wechsel auf iscCGM eine Option dar. Umgekehrt kann bei Nichterreichen der Therapieziele oder instabiler Glukosekontrolle unter iscCGM der Wechsel auf rtCGM sinnvoll sein. Mangelnde Adhärenz mit rtCGM oder iscCGM sollte zur Beendigung der Nutzung dieser Systeme führen.

Bei Kindern kann das Vorgehen davon abweichen. Diese erhalten heutzutage häufig schon initial eine Insulinpumpe und rasch ein CGM-System. Kinder < 2 Jahren bekommen vielfach primär direkt beides, weil 12 – 15 SMBG-Messungen pro Tag eine hohe Belastung für Kind und Eltern darstellen (bei der Kalibration erlernen sie SMBG). Diese Patientengruppe profitiert insbesondere von den neuen technischen Optionen.

Aussagen zur therapeutischen Nutzung der beim Glukosemonitoring erhaltenen Messwerte bei verschiedenen Patientengruppen werden in den jeweiligen anderen Praxisempfehlungen der DDG gegeben.

Die vorliegenden Empfehlungen nennen keine Produktnamen bei Blutzuckermesssystemen, obwohl der Bedarf für eine Positivliste deutlich vorhanden ist. Ebenso werden keine Angaben zu technischen Details von spezifischen Produkten gemacht, da deren Weiterentwicklung zu rasch verläuft (s. Homepages der Hersteller).

Bei der vorliegenden Praxisempfehlung handelt es sich nicht um eine evidenzbasierte S3-Leitlinie. Entsprechend werden die Aussagen nicht durch Literaturzitate belegt. Die Empfehlungen beruhen auf klinischen und praktischen Erfahrungen und der aus Studien abgeleiteten Evidenz im Sinne einer möglichst guten Nutzbarkeit im Alltag. Außerdem werden keine Aussagen zur Diabetesdiagnose und dem Einsatz von Systemen zur Glukosemessung in diesem Zusammenhang gemacht (s. dazu die entsprechende Praxisempfehlung).

Die Autoren dieser Praxisempfehlung sind Mitglieder der AG Diabetes & Technologie e. V. (AGDT) und/oder der Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie e. V. (AGPD), die als Arbeitsgemeinschaften unter dem Dach der DDG verortet sind. Die AGDT hat eine Reihe von Stellungnahmen und Publikationen zu Aspekten erstellt, die in dieser Praxisempfehlung behandelt werden; diese sind auf der DDG-Homepage zu finden. Diese Praxisempfehlung wurde mit der Kommission für Labordiagnostik in der Diabetologie (KLD) konzertiert. Ebenso fließen Aussagen aus der aktuellen S3-Leitlinie zum Typ-1-Diabetes, publiziert im März 2018, sowie der S3-Leitlinie bei Kindern und Jugendlichen [Neu A, Bürger-Büsing J, Danne T, Dost A, Holder M, Holl RW, Holterhus PM, Kapellen T, Karges G, Kordonouri O, Lange K, Müller S, Raile K, Schweizer R, von Sengbusch S, Stachow R, Wagner V, Wiegand S, Ziegler R. Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Kindes- und Jugendalter. S3-Leitlinie der DDG und AGPD 2015. AWMF-Registernummer 057–016 © Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) 2015. S. 1 – 18] ein, die unter der Federführung der AGPD im Jahr 2015 publiziert wurde.