Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2018; 23(02): 57-58
DOI: 10.1055/a-0579-2718
Herausgeberkommentar
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wie es in der Gesundheitspolitik weitergeht - oder auch nicht: Das Koalitionspapier und seine Folgen

Proceedings in the german health care policy
Reinhard P. T. Rychlik
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Publikationsdatum:
26. April 2018 (online)

Auf gut 7 Seiten beschreiben CDU/CSU und SPD ihre Vorstellungen zum Gesundheitswesen für die nächsten 4 Jahre. Das sind gerade mal knapp 4 % der gesamten Koalitionsvereinbarung. Ob der Wert der Gesundheit der deutschen Bevölkerung hieran gemessen werden sollte, bleibt auch nach der Lektüre fraglich. Vielleicht gibt es auch nicht so viel zu tun? Immerhin wird es an 4. Stelle des Papiers unter dem Titel „Gesundheit und Pflege“ genannt. Was Gesundheit mit Pflege zu tun hat, wird nicht gesagt, soll aber wohl den gesamten Bogen der Gesundheit deutlich machen. Dies hätte nur noch durch die Überschrift „Leben und Tod“ getoppt werden können. 7 Seiten sind schon wenig, aber immerhin stehen das Patientenwohl und die Patientenorientierung im Vordergrund. Also krank muss der Bürger schon sein.

Dazu könnte der Satz „Zur Erreichung einer sektorenübergreifenden Versorgung wollen wir nachhaltige Schritte einleiten.“ aus den 50er Jahren stammen. Immerhin soll dies nun nach Jahrzehnten endlich „eingeleitet“ werden. Besser spät als nie. Offenbar ist ein Weckruf erfolgt. Wie die Elektromobilität hatte man jahrelang die Pflege verschlafen (man könnte glauben, dass die Digitalisierung den nächsten Weckruf braucht …). Jetzt steht die Pflege an 1. Stelle! Man könnte meinen, dass die Flut an betreuenden Angehörigen zum Wiederaufleben der Diskussion um den Stellenwert der Familie hätte führen können. Zumindest sei dieser Gedanke an den Vorsitzenden der Jusos adressiert, der nach Alleinstellungsmerkmalen seiner Partei sucht. Aber nein: Es wird ein Sofortprogramm Pflege und eine konzertierte Aktion Pflege auf „den Weg gebracht“.

8000(!) neue Fachkraftstellen werden geschaffen. Zunächst könnte man glauben, es handele sich um einen Druckfehler und eine Null sei einfach nicht ausgedruckt worden. Als nächstes muss man sich jedoch fragen, wo diese 8000 Pfleger denn gerade sind. Als ob diese 8000 direkt von Hartz IV ins Arbeitsleben zurückgeführt werden könnten. Sollten sie erst ausgebildet werden müssen, reden wir von Jahren, wohlwissend, dass von 10 eingeladenen Ausbildungsanwärtern 7 nicht zum Vorstellungsgespräch erscheinen! Dabei handelt es sich um einen sehr wertvollen und anspruchsvollen Beruf: Ethik, Sensibilität, vor allem Zuverlässigkeit und Verantwortung – alles Werte, die in Deutschland auf dem Rückmarsch sind (noch ein Geschenk für Herrn Kühnert). Viel Glück bei der „Ausbildungsoffensive“.

Ein soziales Jahr als Pflichtprogramm für unsere Jugend wäre übrigens auch noch eine Diskussion wert gewesen. Auch die Telematisierung alter Menschen auf dem Land wäre ein Thema, weil mit dem Rollator keine 400 km zurückgelegt werden können. Das Fazit der Koalitionäre ist jedoch: Wir werden jetzt besser bezahlen, dann wird schon alles gut. Ob ein „präventiver Hausbesuch“ dem Grundsatz Reha vor Pflege entspricht, wird nicht erläutert, ebenso wenig die Frequenz, Dauer und das erwartete Outcome solcher Besuche.

Was macht man, wenn die sektorenübergreifende Versorgung endlich mal funktionieren soll? Man gründet eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe – mehr nicht. Dagegen wird auch die ambulante Versorgung mit einem „Sofortprogramm“ ausgestattet: Mindestsprechstundenangebot für GKV-Versicherte und bessere (?) Vergütung der sprechenden Medizin. Morbiditätsorientiert will man sich mit Krebs, Demenz, psychischen Störungen, Diabetes, Rückenschmerz und Depressionen beschäftigen und nebenbei den Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln verbieten. Dabei liegt auf der Hand, dass ein solches Verbot ordnungspolitisch überhaupt nicht geboten ist und jahrelange Gerichtsprozesse nach sich ziehen wird. Der niedergelassene Apotheker wird hierdurch nicht gerettet, weil eigene Strukturmaßnahmen fehlen. Auf das moderne Vergütungssystem statt GOÄ und EBM darf man gespannt sein. Immerhin verbietet man die GOÄ nicht sofort.

Im Krankenhaussektor strebt man schon geraume Zeit Zentren für schwerwiegende, komplexe oder seltene Erkrankungen an. Nahezu tragisch erscheint dagegen die Einlassung zur Notfallversorgung. Es ist beschämend, dass der wohl wichtigste Bereich der Sicherstellung der Versorgung akut Erkrankter nicht schon lange über die Selbstverwaltung reguliert werden konnte. Dem Bund fehlen hierzu Kompetenz und Legislative, aber es zeigt, dass sofortiger Handlungsbedarf besteht.

Interessant ist auch die Feststellung im Kapitel Gesundheitsberufe: „… dazu gehören auch mehr Medizinstudienplätze“. Als wenn es keine Interessenten für ein Medizinstudium gäbe. Auf einen Studienplatz kommen 7 Bewerber, die sich nach 6 Jahren Wartezeit frustriert von der Republik abwenden oder ihr Studium im früheren Ostblock absolvieren. Auch dies könnte ein weiteres „Alleinstellungsmerkmal“ für die Diskussion der Jusos sein: Wo bleiben hier Gerechtigkeit und Gleichheit? Da nützen auch keine „neuen Unterrichtskonzepte als Schwerpunkt- bzw. Vertiefungsprogramm“: Wo kein Student ist, braucht man auch nicht unterrichten.

Das gilt auch für die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung. Die wird schon längst durch Dr. Google geleistet. Von einem Schulfach Gesundheit ist nach wie vor keine Rede. Digitalisierung und E-Health werden eine halbe Seite gewidmet. Ob Fernbehandlung eine gute Sache ist oder nicht, werden wir durch ein Modellvorhaben in Baden-Württemberg bald wissen. Zumindest in der Schweiz hat man hiermit bislang gute Erfahrungen gesammelt. Medizintechnik und pharmazeutische Industrie sind diesmal nicht so wichtig. Dagegen werden die Beiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung künftig wieder paritätisch finanziert.

Fazit: Die Einlassungen der Arbeitsgruppe Gesundheit der Koalitionäre bringt kaum Neues und bewahrt den Status idem. In den nächsten Jahren werden die Probleme insbesondere in der Pflege dringlicher werden. Mit Jens Spahn steht Gott sei Dank ein Insider als Minister zur Verfügung, der die Probleme kennt und sicher konstruktiver an die Lösungen herangehen wird. Die solide Vorarbeit von Hermann Gröhe in der letzten Legislaturperiode wird zudem ein gutes Fundament für die Weiterentwicklung des deutschen Gesundheitssystems sein. Vielleicht stehen im nächsten Koalitionspapier dann mehr als 7 Seiten und vielleicht kommt auch das Wort „Qualität“ mal vor.

Prof. Dr. Dr. Reinhard P. T. Rychlik