Zusammenfassung
Die Neurorientierung der Rehabilitation auf der Basis und mit dem Ziel, sich vermehrt
an den Belangen der Betroffenen auszurichten, ergibt sich aus den Entwicklungen in
der deutschen und den europäischen Selbsthilfebewegungen, die direkt Eingang in das
SGB IX gefunden haben. Die europäische Selbsthilfebewegung, deren Forderungen in der
Madrider Erklärung zusammengefasst wurden und in der Leitlinie Nothing about us without us - Nichts über uns ohne uns fokussieren, die Empowerment-Bewegung und das SGB IX zielen gleichermaßen auf Selbstbestimmung,
Teilhabe, Recht auf Mitwirkung, Bereitstellung von Mitteln, die Teilhabe umzusetzen
(Empowerment). Damit vollzieht sich ein Wandel im Denken von der Defizitorientierung
zum Verstehen von Behinderung als Notwendigkeit, Ressourcen für die Entfaltung vorhandener
Fähigkeiten bereitzustellen (Nachteilsausgleich). Die obrigkeitsstaatliche Fürsorgeperspektive
und die Objektorientierung werden zugunsten einer Subjektorientierung verlassen, die
Betroffenen werden zu selbst bestimmten und selbst handelnden Subjekten. Daraus ergeben
sich wichtige Weiterentwicklungsimpulse für die Rehabilitation: Beteiligung in Form
von Selbstassessment, Rehazielformulierung, Mitbestimmung und Beteiligung am Rehabilitationsprozess,
Beteiligung an der Beendigung der Rehabilitation (Mitunterschrift im Entlassbrief),
Beurteilung der Ergebnisqualität und informationelle Selbstbestimmung (persönliche
Krankenakte).
Abstract
A new orientation of rehabilitation in Germany has been initiated by the social political
representatives in legislation and government, based on conceptualizations of self
help movements in Europe and Germany. The goal is to form a new rehabilitation which
is dedicated to participation and partnership of citizens with disability („Nothing
about us without us”). Empowerment is envisaged and resources supplied by legislation
to allow to implement these new concepts (personal budget). To guarantee these new
rights they have been codified in a new, 9th book of the German social code (Sozialgesetzbuch
IX, SGB IX). This new perspective gives rise to major evolutionary impulses in rehabilitation,
notably disabled persons’ participation in self-assessment, in formulating their rehabilitation
goals, determining and controlling the rehabilitation process, terminating rehabilitation
(co-signing their discharge reports), as well as evaluating the outcome (quality control
of rehabilitation results). They have the right to get all their medical information
(right of informational independence). Seven guidelines of people with disability
are formulated to support implementation of the new rehabilitation.
Schlüsselwörter
Rehabilitation - Selbstbestimmung - Selbsthilfe - Partizipation - Empowerment - SGB
IX - Patientenrechte - Prävention - Leitlinien - Qualitätskontrolle
Key words
Rehabilitation - disabled persons’ rights - self help groups - participation - empowerment
- SGB IX - prevention - guidelines - Madrid Declaration - quality control
1 Verkürzte Fassung eines Vortrags anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Bundesversicherungsanstalt
für Angestellte (BfA) auf dem Rehabilitationsforum der BfA vom 27. bis 28. Februar
2003 in Berlin.
2 Participere leitet sich von partem capere ab, wörtlich seinen Teil fassen, nehmen
und teilnehmen. Partizipation ist damit als Teilnahme der Bedeutung nach aktiver als
Teilhabe suggeriert.
3 Zugehend bedeutet hier, dass die Leistungsträger und Leistungserbringer selbst aktiv
werden und auf die Betroffenen zugehen.
4 Das heißt, Bereitstellung von entsprechenden Ressourcen im Sinne des Empowerments.
5 Im SGB IX ist vorgegeben, dass Selbstbestimmung und Teilhabe grundlegendes Prinzip
auch für die kurative Medizin (SGB V) sind.
6 Im Sinne des Empowerment („Rechte ohne Ressourcen sind ein grausamer Scherz”, so
Rappaport).
7 Denkbar ist auch ein europäisches Institut, da sich die medizinisch-inhaltlichen
Gesundheitsaspekte europaweit ähnlich darstellen.
8 Durch ein begleitendes Forschungsprojekt ließe sich die Validität dieses Verfahrens
im Vergleich zu den anderen wissenschaftlich absichern.
9 Die im § 3 SGB IX geforderte Prävention der Rehabilitationsträger belege ich mit
dem Begriff „Präventivrehabilitation”. Damit erhält der Begriff der Re-Habilitation
zur Bedeutung der (Wieder-)Befähigung die zusätzliche (schon ursprüngliche) Konnotation
der „Um-Gewöhnung” im Sinne der Verhaltens„umgewöhnung” und -änderung. Nicht von ungefähr
umfasst § 3 SGB IX nur 1 1/2 Zeilen (16 Wörter), was darauf hinweist, dass die Prävention möglicherweise sowohl
inhaltlich als auch institutionell in Deutschland noch unterentwickelt ist.
Prof. Dr. phil. et med. Paul W. Schönle
Neurologische Fach- und Rehabilitationsklinik NRZ Magdeburg, Median-Kliniken GmbH
& Co.
Gustav-Ricker-Straße 4
39120 Magdeburg
Email: paul.schoenle@uni-konstanz.de