Pneumologie 2001; 55(4): 163-176
DOI: 10.1055/s-2001-12993
ÜBERSICHT
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Verbreitung der Non-Compliance bei Asthma-Patienten: Aktueller Forschungsstand und methodologische Probleme[1]

Incidence of Non-Compliance in Asthma Patients. Update State of the Art in Research and Methodological ProblemsS. Mühlig1 , F. Petermann1 , K. Ch Bergmann2
  • 1Zentrum für Rehabilitationsforschung, Universität Bremen
  • 2Allergie- und Asthmaklinik, Bad Lippspringe
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Einleitung

Chronische Erkrankungen wie Asthma bronchiale erfordern komplexe Therapiepläne, wie sie in nationalen und internationalen Therapierichtlinien auf der Grundlage evidenzbasierter klinischer Studien formuliert werden [1] [2] [3]. Die moderne Asthmatherapie basiert dabei im Wesentlichen auf zwei Säulen: der kontinuierlichen Anwendung antiinflammatorischer inhalativer Corticosteroide sowie bronchodilatorischer β2-Sympathomimetika. Diese hochwirksamen Arzneimittel (AM) sind nach den Therapieempfehlungen der Fachgesellschaften in Form definierter Stufenschemata über lange Zeiträume anzuwenden und dem wechselnden Krankheitsverlauf ständig anzupassen. Die optimale Umsetzung derartiger Behandlungspläne setzt allerdings ein hohes Maß an Mitwirkungsbereitschaft und Selbstmanagement-Fähigkeiten auf Seiten der Patienten voraus, das in der Praxis nicht ausreichend gegeben scheint [4]. Die - trotz erheblicher Therapiefortschritte - persistierende oder sogar steigende Asthmamorbidität [5] [6] [7] ist wahrscheinlich in erster Linie auf die mangelnde Patienten-Compliance zurückzuführen [8]. Bei erwachsenen Asthmatikern mit geringer Compliance findet sich zum Beispiel im Vergleich zu complianten Patienten eine erheblich ausgeprägtere Verschlechterung der Lungenfunktion [9], wohingegen sich bei guter Compliance die Symptomatik und die Anfallsrate signifikant verbessert [10] [11] [12] [13]. Mit wachsender Evidenz wird auch die seit 20 Jahren anhaltend hohe Mortalitätsrate beim Asthma bronchiale [14] [15] [16] [17] auf die Non-Compliance und Defizite beim Selbstmanagement der Patienten zurückgeführt. Obwohl Mortalitätsstudien aufgrund ihres meist retrospektiven Charakters mit Vorsicht zu betrachten sind [18], weisen zahlreiche Ergebnisse konsistent darauf hin, dass das Non-Compliance-Problem auch einen wesentlichen Faktor für die hohe Asthma-Mortalität darstellt [19] [20] [21] [22] [23] [24]. Durch die verbreitete Non-Compliance werden zudem effiziente Inanspruchnahmen von Gesundheitsdienstleistungen beeinträchtigt sowie enorme gesundheitsökonomische und soziale Folgekosten verursacht [25].

Die Folgen einer suboptimalen Therapiemitarbeit (Non-Compliance) für den individuellen Patienten sind beträchtlich (vgl. Kasten [1]): Neben einer akuten Exazerbation mit einhergehender Verschlechterung der Symptomatik und des Krankheitsschweregrades ist langfristig eine verzögerte Heilung bzw. ein verlängerter Krankheitsverlauf und eine ungünstigere Prognose zu befürchten. Eine unzureichende oder unsachgemäße Selbstmedikation kann darüber hinaus zu einer erhöhten Inzidenz von Erkrankungskomplikationen [26], daraus resultierenden zusätzlichen Behandlungserfordernissen (Notarzteinsatz, Hospitalisierung), schleichenden Exazerbationen oder zu akuten Notfällen und im schlimmsten Fall zur tödlichen Attacke führen [27] [28] [29] [30] [31]. Neben einer mangelnden Dauerbehandlung mit antiinflammatorischen und bronchodilatorischen AM können auch AM-Fehler wie der exzessive AM-Gebrauch („Hypercompliance”) zu gefährlichen Situationen führen [32]. Mittelbar wird durch Non-Compliance die körperliche Leistungsfähigkeit, soziale Aktivität und subjektive Lebensqualität des Patienten erheblich beeinträchtigt [33]. Aus der Fehlmedikation resultierende Konsequenzen (verlängerte Arbeitsunfähigkeitszeiten, drohender Arbeitsplatzverlust) können schließlich weitere massive emotionale, soziale und wirtschaftliche Krankheitsfolgebelastungen verursachen [34]. So führt eine mangelnde Kontrolle der Asthma-Attacken und eine Verschlechterung des Erkrankungsverlaufes häufig zu emotionalem Stress und zu dauerhaften familiären Problemen und psychischer Dysbalance bei den Patienten und ihren Angehörigen [35] [36].

Schließlich wird häufig auch die Durchführung empirischer Studien durch die mangelnde Compliance der Studienteilnehmer erheblich beeinträchtigt. Unentdeckte Non-Compliance in klinischen Studien zur Arzneimittelprüfung kann beispielsweise zu massiven Verfälschungen der Untersuchungsresultate wie der Fehleinschätzung hinsichtlich der Effektivität eines neuen Wirkstoffes, die falsche Berechnung der Dosis-Wirkungs-Beziehung etc. führen. Dies kann u. U. mit weitreichenden Folgen für die Versorgungspraxis wie dem Verzicht auf wertvolle Wirksubstanzen wegen vermeintlicher Ineffektivität oder unangemessene (zu hohe) Dosierungsempfehlungen aufgrund von non-compliance-bedingten Effektverzerrungen verbunden sein [38] [39] [40].

Kasten 1:Konsequenzen mangelnder Compliance 37 1. Behandlungsmisserfolg- keine Symptomfreiheit- kein normales Alltagsleben- keine normale Körperbelastung- progredienter Krankheitsverlauf- ernsthafte Attacken- steigender emotionaler Stress- Störung des psychologischen Gleichgewichtes 2. AU- und Schulfehltage 3. Dauerbehandlung 4. steigende Kosten 5. häufige Ambulanzbesuche 6. AM-Toxizität 7. lebensbedrohliche Attacken 8. Tod

1 Dieser Beitrag basiert auf Auszügen aus der Habilitationsschrift des Erstautors.

Literatur

1 Dieser Beitrag basiert auf Auszügen aus der Habilitationsschrift des Erstautors.

2 Prozentwerte über 100 repräsentieren dabei Abweichungen von der Verschreibung nach oben (= Überdosierungen). Inzwischen werden Compliance-Angaben üblicherweise so formuliert, dass eine absolute Einhaltung der Verschreibung gleich 100 gesetzt wird und sowohl Unter- wie Überdosierungen als prozentuale Annäherung an dieses Optimum betrachtet werden, also auch AM-Mehrverbrauch nur Werte unter 100 % erreichen kann.

3 Bosley et al. [126] wählten zum Beispiel folgenden Algorithmus zur Bestimmung der Non-Compliance mit inhalativen AM in der Asthmatherapie: Sie bildeten einen prozentualen Compliance-Wert, indem sie den Quotienten aus der eingenommenen vs. der verschriebenen Dosisanzahl mit 100 mulitplizieren. Als non-compliant wurde ein Patient dann definiert, wenn er über den Erhebungszeitraum weniger als 70 % der Verschreibungsdosis eingenommen oder die AM-Anwendung für mindestens eine Woche ganz versäumt hatte.

Dr S Mühlig

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