Rofo 1999; 171(6): 496-497
DOI: 10.1055/s-1999-8190
DER INTERESSANTE FALL
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Nicht parasitär bedingter renaler Lymphreflux mit Chylurie

D.
  • Universität Bonn
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
31. Dezember 1999 (online)

Inhaltsübersicht

Die Lymphurie bzw. Chylurie weist in den Tropen und subtropischen Gebieten eine hohe Inzidenz auf. In Europa stellt sie ein sehr seltenes Krankheitsbild dar - häufig als Pyurie oder Lipidurie fehlgedeutet. Vor der Einführung der Lymphographie durch Kinmonth 1952 konnte die Lymphurie häufig nur zystoskopisch nach einer Provokationsmahlzeit nachgewiesen werden; die Urographie zeigte meist einen Normalbefund. Eine weitere diagnostische Möglichkeit stellte die orale Gabe von Sudan III-gefärbtem Fett dar - bei renalem Lymphreflux kam es zu einer Rotfärbung des Urins.

Durch die Lymphographie ist es möglich geworden, die Morphologie des lymphatischen Systems bei der Chylurie in vivo genauer zu studieren. Sie ermöglicht eine exakte Aussage zur Lokalisation und Ausdehnung der Lymphsystemveränderungen sowie über das Vorliegen eines Refluxes. Im folgenden soll mit der Präsentation eines nicht-parasitären renalen Lymphrefluxes ein ungewöhnlicher Fall, diagnostiziert durch ein seltener gewordenes Untersuchungsverfahren, dargestellt werden.

#

Kasuistik

Eine 32jährige Patientin stellte sich aufgrund eines weißlich-trüben Urins mit Schleimabgang vor. Dieses Ereignis sei seit der Geburt ihres zweiten Kindes vor einem Jahr wiederholt aufgetreten; intermittierend hätten rechtsseitige Flankenschmerzen das Geschehen begleitet. Ein ähnliches Beschwerdebild habe auch nach der Geburt ihres ersten Kindes vor 6 Jahren bestanden und nach Antibiotikagabe sistiert.

Anamnestisch fanden sich außer rezidivierenden Urozystitiden keine Besonderheiten. Bei Aufnahme lag kein Fieber vor, der Urin war klar, und die Blutlaborwerte befanden sich im Normbereich. Sonographisch zeigte sich eine Weitstellung des rechten Nierenbeckens, die allerdings nach einigen Tagen nicht mehr nachweisbar war, vereinbar mit einer symptomatischen Harnstauungsniere bei einem Fibrinkoagel im rechten Ureter. Die Erregersuche (u. a. Mykoplasmen, Ureaplasmen, Tbc) verlief negativ.

Zystoureteroskopisch wurde ein schleimartiges Gebilde aus der Blase entfernt, ansonsten war der Befund bis auf eine weißliche Urinfahne aus dem rechten Ostium unauffällig. Die mikrobiologische Untersuchung des gewonnenen Materials konnte keinen Keimnachweis erbringen. Histologisch ließ sich ausschließlich Fibrin darstellen; es lag kein Hinweis auf Malignität vor. Die Computertomographie der Nieren, nativ und nach intravenöser Kontrastmittelapplikation (Doppelspiraltechnik), war unauffällig.

Die chemische Analyse des Urins zeigte einen erhöhten Fett- und Proteingehalt, vereinbar mit einer Lymphurie. Eine Filariose konnte sowohl anamnestisch als auch klinisch ausgeschlossen werden. Lymphographisch (pedale maschinelle Injektion von je 8ml Lipiodol Ultra-Fluid, Byk-Gulden, Konstanz) zeigte sich ein chylöser Reflux aus dem rechten Truncus lumbalis über die rechtsseitigen, ektatischen renalen Lymphgefäße in das Nierenhohlsystem (Abb. [1 ] a, b). Es lag allenfalls eine geringe Seitendifferenz in der Ausprägung der retroperitonealen Lymphknoten mit geringfügig schwächerer Kontrastierung rechts vor. Es ergab sich kein Hinweis auf einen tumorösen Befall des retroperitonealen Gewebes oder auf entzündlich bedingte LK-Veränderungen. Auch Zeichen der Obstruktion wie Kollateralkreisläufe konnten nicht dargestellt werden, der Ductus thoracicus war regelrecht abzugrenzen.

Intraoperativ ließen sich mehrere kräftige Lymphbahnen im Sinne von Fisteln darstellen, die anschließend ligiert wurden. Weiterhin zeigte sich eine auffällige Blutversorgung mit vielen fächerförmigen kleinen Nierenarterien ohne arterielles Stammgefäß. Postoperativ war die Patientin beschwerdefrei.

#

Diskussion

Das in Europa seltene Krankheitsbild der Chylurie wird durch einen pathologischen Reflux der Lymphe über die erweiterten renalen Lymphgefäße in das Nierenhohlsystem hervorgerufen. Sie ist charakterisiert durch ein intermittierendes Auftreten milchig-trüben Harns, evtl. auch begleitet von Fibrinkoagula, die eine entsprechende Schmerzsymptomatik hervorrufen können. In der Regel beruht diese Flußumkehr auf einer Obstruktion des Ductus thoracicus. Durch die Abflußbehinderung kommt es zu einer Lymphstase und intraluminalen Drucksteigerung; es folgt eine Insuffizienz der Lymphgefäßklappen mit Ausbildung von Varizen und Reflux in das Lymphgefäßgebiet der Niere. Der zur Chylurie führende Shunt kann sowohl einseitig auftreten als auch beide Nieren betreffen. Die linke Seite ist im Verhältnis 2 : 1 gegenüber der rechten bevorzugt (Taenzer V et al, Fortschr Röntgenstr 1967; 106: 717).

Bei der Chylurie wird zwischen der parasitären bzw. tropischen und der nicht-parasitären Form unterschieden. In 98% der Fälle handelt es sich um eine parasitäre Ätiologie (Lehmann HD et al, Urologe 1973; 12: 238), in der Regel bedingt durch Filaria bancrofti. Seltener sind Infektionen durch andere Erreger wie Echinococcus, Cysticercus, Ascaris oder Plasmodien. Pathomorphologisch läßt sich die Obstruktion der Lymphbahnen auf der Basis einer diffusen Lymphangitis (Endolymphangitis obliterans) mit konsekutiver Bildung von Narbengewebe erklären (Koehler P et al, AJR 1968; 102: 455).

Selten und nicht immer ätiologisch geklärt ist die nicht-parasitäre Form. Als auslösende Ursachen der Obstruktion sind hier Verschlüsse des Ductus thoracicus durch raumfordernde oder entzündliche Prozesse im Retroperitonealraum bekannt; auch Gravidität muß in Betracht gezogen werden. Schon Hippokrates beschrieb das Krankheitsbild der Chylurie bei einer Frau, bei der post partum öliger Urin auftrat (Lazarus JA et al, J Urol 1946; 56: 246). Eine traumatische Genese ist nur in Einzelfällen zu finden.

Abgesehen hiervon gibt es eine kongenitale Lymphurie; sie geht auf Entwicklungsanomalien des Lymphgefäßsystems zurück. Die anlagebedingte Lymphurie ist selten. Die Darstellung des Ductus thoracicus ist bei diesen Formen in der Regel normal, es können lumbale Lymphektasien der erkrankten Seite und eine fehlende oder geringe Kontrastierung der lumbalen Lymphknoten auftreten (Ngan H et al, BJR 1977; 50: 863).

Die Untersuchungen in unserem Fall sprechen am ehesten für eine kongenitale Fehlanlage von Lymphgefäßen und -klappen im Bereich der rechten Niere, die bis zu der Geburt des ersten Kindes symptomfrei war oder allenfalls zu einer okkulten Chylurie führte. Im Rahmen der Schwangerschaft düfte es durch die Erhöhung des intraabdominellen Drucks zu einer Dekompensation der Fehlbildungen des Lymphgefäßsystems mit vermehrter Shuntbildung gekommen sein, die dann eine apparente Lymphurie zur Folge hatte. Ein regelrechter Ductus thoracicus ohne Hinweis auf Obstruktion oder sonstige pathologische Veränderungen lag vor; auch die Gefäßanomalie im Bereich der rechten Niere mit fehlendem A.renalis-Hauptstamm weist auf eine Entwicklungsstörung hin.

D. Kutzner, Kiel

Zoom Image

Abb. 1 (a) Lymphographische Darstellung der Lymphknoten und -bahnen im Bereich des Beckens und paravertebral. Etwas verminderte Kontrastierung der paralumbalen Lymphknoten re. sowie ein deutlich ausgeprägter Kontrastmittelreflux über ektatische renale Lymphgefäße re. (b) Vergrößerung aus a) mit Detaildarstellung der ektatischen renalen Lymphgefäße rechtsseitig.

Zoom Image

Abb. 1 (a) Lymphographische Darstellung der Lymphknoten und -bahnen im Bereich des Beckens und paravertebral. Etwas verminderte Kontrastierung der paralumbalen Lymphknoten re. sowie ein deutlich ausgeprägter Kontrastmittelreflux über ektatische renale Lymphgefäße re. (b) Vergrößerung aus a) mit Detaildarstellung der ektatischen renalen Lymphgefäße rechtsseitig.