Z Orthop Unfall 2016; 154(06): 545-548
DOI: 10.1055/s-0042-121438
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Deutscher Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie 2016 – Weg vom Image der Endoprothetik – die ganze Bandbreite des Fachs nützen!

Bernhard Epping
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Publication Date:
14 December 2016 (online)

 

11 612 Teilnehmer, darunter aber auch die Mitarbeiter von 230 ausstellenden Unternehmen, trafen sich vom 25. bis 28. Oktober 2016 auf dem Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) in der Berliner Messe-Süd. Einige Skizzen vom größten europäischen Kongress seiner Art.


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Megathemen? In diesem Jahr eher Fehlanzeige. Zwei Trends aber waren erkennbar – die Forderung nach neuen Geldquellen für die Notfallversorgung in Deutschland ebenso wie für Systeme der bislang freiwilligen Qualitätssicherung. Und der Appell, jenseits der Endoprothetik wieder mehr das ganze Methodenspektrum des Fachs zu nützen.

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Die diesjährigen Kongresspräsidenten des DKOU v. l. n. r.: Dr. med. Manfred Neubert (BVOU), Prof. Dr. med. Florian Gebhard (DGU) und Prof. Dr. med. Heiko Reichel (DGOOC).(Bild: © Intercongress/Tobias Tanzyna)

Neue Langzeitdaten nach Osteotomien

Man wolle sich „ein bisschen“ wehren gegen die Vorstellung, Orthopädie gleich Kunstgelenk, formulierte es Professor Heiko Reichel, Ärztlicher Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik Ulm am RKU und als Präsident der DGOOC und DGOU zugleich auch einer der 3 diesjährigen Kongresspräsidenten. 400 000 Menschen erhalten nach Schätzungen des Endoprothesenregisters EPRD in Deutschland jährlich ein künstliches Knie- oder Hüftgelenk, in 44 000 Fällen geht es dabei um eine Wechseloperation. Nach mehreren Statistiken sind diese Zahlen seit Jahren etwa konstant. Dennoch, betonte Reichel, gelte es mehr denn je, vor der Implantation eines Kunstgelenks das ganze Arsenal an gelenkerhaltenden Maßnahmen auszuschöpfen.

Als Beispiel nannte Reichel die Möglichkeiten von Osteotomien bei Achsenfehlstellungen und verwies auf neue Daten der Gruppe um Professor Klaus Siebenrock in Bern, nach denen von 63 Patienten mit schmerzhaften Dysplasien und Arthrose, die zwischen 1984 und 1989 mit der sogenannten periazetabulären Osteotomie operativ behandelt wurden, 30 Jahre später immerhin ein Drittel noch keine Endoprothese benötigte. Reichel: „Weltweit ist das der erste Beleg für solche Erfolge auch noch 30 Jahre nach dieser Operation.“ [1]


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Immer mehr Knieverletzungen

Sorge bereiten den Orthopäden steigende Zahlen an Verletzungen, vor allem beim Knie. Dr. med. Johannes Flechtenmacher vom BVOU präsentierte die jetzt von BVOU, AOK und 2 universitären Instituten komplett ausgewerteten Daten zum Unfallgeschehen bei 3,8 Millionen AOK-Versicherten in Baden-Württemberg aus den Jahren 2008 bis 2013. Jeder 10. AOK-Versicherte war danach 2013 wegen einer Verletzung beim Arzt. Verletzungen am Knie stehen mit knapp 14 % auf Platz 4 (nach Verletzungen an Kopf, Hand und Fuß) und sie nehmen zu. Bei Frauen besonders, hier stieg die „altersstandardisierte Inzidenz“ bei Knieverletzungen im Untersuchungszeitraum um knapp 10, bei Männern um knapp 5 % [2]. Mehrere saisonale Peaks bei den Statistiken deuten auf Sportverletzungen als eine Hauptursache vor allem bei jüngeren Menschen. Sport bei den Jüngeren, Stürze bei den Älteren nannte Flechtenmacher als Themen, bei denen viel mehr Prävention nötig ist.

Gelenkverletzungen erhöhen das Risiko für Arthrosen. Der besonders große Anstieg bei Frauen erfordere eine „geschlechtsspezifische Prävention“. Die richtige Behandlung von Verletzungen, von Bänderrissen, Meniskusrissen, lokalen Knorpelschäden sei entscheidend, um die Entstehung einer Arthrose zu bremsen oder zu verhindern, betonte Reichel.


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Ärger über G-BA-Ausschluss von Arthroskopien am Knie

Schwer verdaulich für die Szene bleibt da offenkundig die Beschlusslage zu Arthroskopien am Kniegelenk. Gelenkspülung, Debridement, Knorpelglättung – bekanntlich hat der G-BA Ende 2015 den Einsatz einer Reihe von arthroskopischen Verfahren am Kniegelenk zu Lasten der GKV gestrichen, wenn – ja wenn derart eine bestehende Gonarthrose behandelt werden soll. Arthroskopien primär zur Behebung von Schäden im Gelenk, etwa zur Behandlung eines Meniskusschadens, bleiben hingegen Kassenleistung [3], [4].

Eine Abgrenzung, die in der Praxis nach Ansicht mancher Experten oft nicht funktioniert. „Es wäre der völlig falsche Weg, wenn aufgrund der Beschlusslage des G-BA der Patient in Zukunft schneller eine Knieprothese braucht, da er nicht mehr arthroskopiert werden darf“, kritisierte Reichel in Berlin. Kein solider Arthroskopeur werde den Anspruch erheben, mit Arthroskopie die Gonarthrose zu heilen, sekundierte Dr. med. Manfred Neubert, Facharzt am Sonneberger Orthopädiezentrum in Bremen und BVOU-Kongresspräsident. Es gehe darum, Schäden zu beseitigen oder zu mindern, um so nachfolgend auch Arthrosen zumindest zu bremsen.

Eine Grundlage der Entscheidung des G-BA sind die Stellungnahmen des IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen), das auch bei chirurgischen Verfahren nach den Ergebnissen von randomisiert-kontrollierten Studien fahndet. Es gibt sie bekanntlich bei der Arthrose am Kniegelenk, angefangen mit der berühmten placebokontrollierten Studie von Moseley et al. aus dem Jahr 2002 [5]. Ein Zugriff auf chirurgische Methoden nach den Verfahren der evidenzbasierten Medizin, der auf dem DKOU für Manchen schwer zu schlucken blieb, wie etwa eine Sitzung zum Thema Qualitätssicherung in der Arthroskopie – Arthroskopie bei Gonarthrose zeigte.

„Die Daten der Moseley-Studie reichen nicht aus für diesen G-BA-Beschluss“, kritisierte PD Dr. med. Ralf Müller-Rath von der Orthopädischen Praxisklinik Neuss: „Sie können solch eine Entscheidung nicht allein auf placebokontrollierte Doppelblindstudien stützen – schließlich machen wir nicht nur Naturwissenschaft sondern auch Erfahrungsmedizin.“

Dr. jur. Roland Flasbarth, Fachanwalt für Medizinrecht in Essen, wagte die Prognose, dass der Beschluss des G-BA aufgrund der Kritik an der methodischen Grundlage beim Bundessozialgericht landen werde.

Hilfestellung dazu, was bei der Kniearthroskopie nach G-BA-Beschluss weiterhin als Kassenleistung geht und was nur noch als IGeL (Individuelle Gesundheitsleistung) gibt zum Beispiel eine neue von mehreren Verbänden geschriebene Handlungsempfehlung „Arthroskopie bei Gonarthrose“. Manch Tipp ist dort aber offenbar wiederum mit zu heißer Nadel gestrickt. So erwähnt die Schrift die Möglichkeit einer Regressübernahme, die sich ein Arzt vom Patienten geben lassen könnte für den Fall, dass eine Kasse eine als GKV-Leistung abgerechnete Arthroskopie nicht zahlt, das Geld zurückfordert. Die Experten in dieser Sitzung rieten von solchen Akrobatstückchen allerdings ab. Gleiches gilt für die Möglichkeit, zunächst den Patienten mit der Frage nach Kostenübernahme zu seiner Kasse zu schicken. Der Arzt, so der einhellige Tenor in diesem Symposium, muss seine Therapieempfehlung selber verantworten.

Bei der Qualität der Indikationsstellung für eine Arthroskopie im Kniegelenk bleibt gleichzeitig in manchen Praxen durchaus noch Luft nach oben, wie Zahlen andeuten, die Dr. med Jürgen Klein, Mitglied der Qualitätssicherungskommission bei der KV Nordrhein zeigte. Bei dieser KV rechnen aktuell 401 Ärzte den Eingriff ab, die Akten von 10 % nimmt Nordhrein wie alle KVen nach Qualitätsvorschriften des G-BA unter die Lupe. „Da sehen wir immer mal wieder Dinge, wo man sagen muss – das geht nicht“, betonte Klein. Bei etwa einem Zehntel der Überprüfungen gibt es Beanstandungen: fehlende Dokumentation der Befunde, keine Bilddokumentation, keine Angaben zur Narkose oder überhaupt zur Angemessenheit des Eingriffs. Klein: „Da muss man manchmal fragen, wo ist die Indikation?“ Mitunter wird Ärzten sogar die Zulassung zur Arthroskopie entzogen.


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Opioide kein Standard bei Arthroseschmerzen

Manfred Neubert betonte in Berlin den Stellenwert der Schmerztherapie bei Arthrose und warnte dabei vor einer zu großen Ausweitung der Behandlung mit Opioiden. Die Basis der Versorgung blieben NSAR. Noch vor wenigen Jahren, so Neubert, sei ja in der Szene zu hören gewesen, Deutschland sei in Sachen Opiate ein Entwicklungsland. Doch das sei vorbei. Die früher der Behandlung von Tumor- oder Phantomschmerzen vorbehaltenen Mittel kämen heute zu über 70 % in anderen Bereichen, hauptsächlich bei Arthrose zum Einsatz. Neubert: „Das halte ich im Großen und Ganzen für eine Fehlentwicklung – auch wenn ich mich damit nicht so ganz im Mainstream bewege.“ Zwar seien die Präparate anders als NSAR gut magenverträglich, hätten dafür aber andere gravierende Nebenwirkungen – Schwindel, erhöhtes Sturzrisiko und vor allem könnten sie bei unbeabsichtigter Überdosierung zum Tod führen. In den USA seien Opioide bereits für mehr Todesfälle verantwortlich als die Überdosierung von Drogen wie Kokain und Heroin zusammen. Neubert: „Opioide sollten bei Arthrose nicht in der Fläche gegeben werden, um Operationen zu vermeiden.“


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„Gemeinsam klug entscheiden“

Auch die Orthopäden und Unfallchirurgen hierzulande möchten sich der Kampagne „Choosing Wisely“ anschließen. Bei den unter diesem Schlagwort von mehreren Fachgesellschaften in den USA seit 2013 angestoßenen Thesen steht im Vordergrund, unnötige Behandlungen zu vermeiden. Hierzulande macht sich vor allem die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin dafür stark. Orthopäden und Unfallchirurgen, hätten begonnen, das Thema zu diskutieren, betonte Neubert in Berlin, täten sich aber noch schwer damit, da die Indikationsstellung oft nicht so eindeutig sei wie in anderen Fachgebieten. Mehrere Referenten aus der Szene hielten sich wohl auch deshalb eher an die deutsche Übersetzung „Gemeinsam klug entscheiden“, betonten die Notwendigkeit zur Entscheidung immer zusammen mit dem Patienten.

In Ansätzen blitzte auf dem DKOU allerdings auch auf, dass Ärzte ihre Rolle womöglich bald noch mit ganz anderen Playern teilen müssen. Apple, Google & Co stünden in den Startlöchern, den Gesundheitsmarkt neu aufzurollen – die „Machtverhältnisse“ würden sich komplett verschieben, meinte Jochen Roeser von der Deutsche Arzt AG, Essen, in einer Sitzung „Die digitale Praxis“. Der Kunde, so Roeser, erwarte heute dank Internet, dass Waren und Lösungen direkt zu ihm kommen – und das werde er demnächst auch von der Medizin erwarten. Das heutige Gesundheitssystem mit seinen Systembrüchen gemahnt Roeser an das alte Kursbuch der Bahn. „Da kommt eine Disruption“, so Roeser – der Terminus für einen kompletten Systembruch. Doktor online oder gleich nur noch Doktor Algorithmus via Internet ins Wohnzimmer geschaltet? Nun, zumindest die in diesem Symposium von einigen Firmen vorgestellten „innovativen Tools“ kamen nicht über Internetbasierte Programme für Physiotherapie daheim und ein Online-Terminmanagement für Arztpraxen hinaus.

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(Bilder: © Intercongress/Tobias Tanzyna)
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(Bilder: © Intercongress/Tobias Tanzyna)
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Neue Geldtöpfe anzapfen

Professor Florian Gebhard vom Universitätsklinikum Ulm, Präsident der DGU und ihr diesjähriger Kongresspräsident warb für eine Finanzierung der Notfallversorgung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, etwa nach dem Vorbild der Finanzierung der Feuerwehr. Vor allem die großen Notfallambulanzen, so Gebhard, leisteten eine Vorhaltung von Personalressourcen und Geräten rund um die Uhr 365 Tage im Jahr. Und geben dafür allein an Personalkosten rund eine Million Euro im Jahr aus, die sich nicht über die Beträge einspielen lassen, die Versicherungen für die Versorgung von Patienten bezahlen. Notfallversorgung rund um die Uhr, so Gebhard, beschere vor allem großen Kliniken kräftige Verluste. Dabei sei die Notfallversorgung eigentlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, gehöre damit auch aus einem gesamtgesellschaftlichen Topf zumindest mitfinanziert. Die Feuerwehr, so Gebhard, würde ja schließlich auch nicht nach Einsätzen bezahlt, „sonst wäre sie zwecks Einnahmen gezwungen, möglichst permanent zu löschen.“

Lob fand Gebhard für das seit Januar 2016 geltende neue Krankenhausstrukturgesetz, das Zuschläge für Krankenhäuser vorsieht, die an der Notfallversorgung teilnehmen. Ein Schritt in die richtige Richtung, meinte der Ulmer Unfallchirurg, argwöhnte aber, dass damit am Ende nur Geld im Gesundheitstopf umverteilt werden dürfte.

Mehr Geld „nur“ aus dem Gesundheitssystem wollten hingegen Experten auf einem Symposium „Endocert und EPRD“ – Beiträge zur Qualitätssicherung. 514 nach Endocert zertifizierte Kliniken der Endoprothetik gab es zum 1. Oktober 2016, 540 sind in der Endstufe angestrebt. Rund 50 000 Euro bezahlt eine Klinik für die Teilnahme am Zertifizierungsverfahren jedes Jahr. „Wir brauchen da einen Return of Investment“, forderte Professor Karl-Dieter Heller von der orthopädischen Klinik Braunschweig. Das Geld für die Teilnahme an Endocert muss für die Krankenhäuser in Zukunft aus anderen Quellen kommen, meinte auch Dr. med. Holger Haas, Vorsitzender der Zertifizierungskommission Endocert. Jürgen Malzahn vom AOK-Bundesverband übernahm den Part der Kassen – und gab den Ball flugs an die Fachgesellschaften und teilnehmenden Kliniken zurück. Endocert sei ein freiwilliges System der Qualitätssicherung – und so lange dies so bliebe, sei es auch Sache der Teilnehmer die Kosten zu schultern. Allerdings sah er auch eine Alternative: „Es sei denn, Sie probieren, das Verfahren von Endocert in die Gremien des G-BA einzubringen.“ Die Teilnahme an Endocert avancierte dann nach entsprechendem Beschluss des G-BA, zu einer Strukturmaßnahme, die ein Haus erfüllen muss, um an der Versorgung teilzunehmen. Und für den Fall, so Malzahn, schaffe § 9 Krankenhausentgeltgesetz einen Mechanismus, dass der G-BA „auch über die Finanzierung seiner Beschlüsse nachzudenken hat“. Sprich – Finanzierung aus Töpfen des Gesundheitssystems. Einziger Schönheitsfehler: Endocert wäre nicht mehr autonome Spielwiese der Fachgesellschaften.

Anders ist dies heute schon beim Endoprothesenregister EPRD, bei dem einige große Kassen bereits heute wiederum aus freien Stücken zusammen mit Herstellern das Gros der Kosten übernehmen, dafür aber eben auch mitsteuern.

Das EPRD kommt voran in der Aufbauphase, wie dessen wissenschaftlicher Leiter Professor Volkmar Jansson von der LMU München referierte. Der erste überhaupt vorliegende Jahresbericht für das Jahr 2015 [6] kann sich auf Datensätze von knapp 150 000 Operationen stützen – etwa ein Drittel der geschätzten jährlichen 400 000 OPs zur Endoprothetik. 600 Kliniken hatten sich bis Juli 2016 beim Register angemeldet, weitere 100 waren im Verfahren. Noch reichen die Zahlen nicht für Aussagen über die Standzeiten von Systemen aus.

Am Horizont winkt derweil eine Integration von EPRD, vielleicht auch Endocert als Teile der gesetzlichen Qualitätssicherung. Hinter den Kulissen wird dazu zwischen Vertretern von O&U und Politik diskutiert. Die Fachgesellschaften möchten allerdings keinen Autonomie- und nachfolgend einen von ihnen befürchteten Qualitätsverlust. Professor Bernd Kladny, Generalsekretär der DGOU betonte: „Wir haben kein Problem damit, die Politik an unseren Systemen partizipieren zu lassen – aber aus der Hand geben möchten wir die Instrumente nicht.“


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Großer Bedarf an kontrollierten Studien

Manch täglich gepflegter Standard der Versorgung harrt weiterhin einer sauberen Validierung. Sichtbar machte das ein Symposium „Komplikationen und Komplikationsmanagement“.

Was tun mit Osteosynthesematerialien nach der Heilung? -ist so eine kaum erforschte Frage. Jede vierte OP dient der Entfernung von Osteosynthesematerialien, referierte Dr. med Hanjo Neumann vom Berufsgenossenschaftlichen Krankenhaus Hamburg. Die Häufigkeit des Eingriffs kontrastiert mit der Unsicherheit, ob und wann er überhaupt sinnvoll ist, zumal er seine eigenen Risiken auf Komplikationen hat. Bei 620 Entfernungen von winkelstabilen oder nicht stabilen Osteosyntheseplatten in einer von Neumann präsentierten Erhebung, kam es in 110 Fällen zu Komplikationen – ausgerissene Schrauben, verbogene oder gelockerte Platten, was den Eingriff verlängert, den Einsatz von Spezialwerkzeugen nötig macht. Die Komplikationsrate war bei winkelstabilen Platten deutlich höher als bei nicht winkelstabilen. Das führe auf eine allgemeine Empfehlung, bei Beschwerdefreiheit die Entfernung zu unterlassen, kommentierte Professor Johannes Sturm aus München. Das Auditorium diskutierte hingegen kontrovers – es fehlen kontrollierte Studien.

Aufhorchen ließ auch eine von PD Dr. med. Arnold Suda, BG Klinik Ludwigshafen vorstellte Studie zu den Komplikationsraten einer unilateralen Fasziotomie bei Patienten mit Kompartmentsyndrom des Unterschenkels. Bei 201 verfolgten Patienten hatten 84 (42 %) nach dem Eingriff Komplikationen, darunter waren besonders viele Wundheilungsstörungen. Immerhin jeder fünfte Patient erlitt Nervenläsionen mit zum Teil fortbestehenden Parästhesien. Bei 73 Patienten war später die Transplantation von Spalthaut erforderlich. Es gelte, die Indikation zur unilateralen Fasziotomie neu zu überdenken, meinte Suda. Die Zahlen seien eine Aufforderung für eine größere prospektive Studie, kommentierte Sturm. „Nur so werden wir das klären.“

Ein Dauerbrenner bleiben die „enttäuschenden“ Ergebnisse bei älteren Patienten mit proximaler Femurfraktur, wie diesmal unter anderem Zahlen einer prospektiven Erhebung aus Marburg belegten. Von 402 Patienten, älter als 60 Jahre, konnten in der von PD Dr. med. Benjamin Bücking vorgestellten Studie 312 nachuntersucht werden. Als Erfolg der Behandlung definierten die Autoren ein Überleben ohne Einweisung in ein Pflegeheim. Das schaffte gerade mal die Hälfte der Patienten (168). Jeder Dritte war hingegen nach einem Jahr gestorben, 44 (13 %) lebten im Pflegeheim. Die DGU hofft, dass die von ihr neu jetzt nach und nach zertifizierten Zentren für Alterstraumatologie helfen werden, die Versorgung dieser Patienten zu verbessern [7].


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Neue Leitlinie Polytrauma und Diskussion von Terrorgefahren

Die S3-Leitlinie Polytrauma ist überarbeitet [8]. „Man hoffe mit weit besserer Leitlinie und dank Traumanetzwerk der DGU in einigen Jahren noch bessere Daten zur Versorgung von Traumaopfern präsentieren zu können“, meinte Koordinator Professor Bertil Bouillon. Die Rede war wie immer von zivilen Unfallopfern im Verkehr, Haushalt, Arbeitsplatz. Vordergründig. Es gibt weitere Gründe, stetig an den Versorgungsstrukturen zu feilen.

Ein Novum in diesem Jahr war ein schriftliches Grußwort der Verteidigungsministerin Dr. med. Ursula von der Leyen. Die Integration des Sanitätsdiensts der Bundeswehr in die zivile Gesundheitsversorgung in Deutschland sei für die Zukunft entscheidend, meint die Ministerin.

Die Gefahr von Terroranschlägen zwingt auch Orthopäden und Unfallchirurgen, sich mehr mit den dann erwartbaren Verletzungen zu beschäftigen. Unter dem Titel „Bombing related injuries – terror attacks in our cities – are we well prepared?“ berichteten Experten aus Israel (zusammen wie die Schweiz in diesem Jahr Gastland auf dem DKOU), Frankreich und Belgien von ihren Erfahrungen.

Das Ausmaß der Verletzungen bei Terrorattacken gegen Zivilisten ist noch größer als das, was Ärzte von Kriegsschauplätzen (Stichwort „War Surgery“) kennen – denn Zivilisten sind im Fall eines Falles Explosionen oder Schießattacken völlig schutzlos ausgesetzt, wie Dr. Kobi Peleg aus Tel Aviv berichtete. Bei einer Bombenexplosion dominieren andere Verletzungen als bei einer Schießattacke. Bei Bomben sind es vor allem Brandverletzungen und „Blast injuries“ – innere Verletzungen durch den enormen Druck bei der Explosion. Hinzu kommen Verletzungen durch tief in den Körper eindringende Gegenstände, etwa umherfliegende Teile einer Bombenzünduhr. Da versagen auch herkömmliche Schlüssel für die Triage am Ort des Geschehens, wie Peleg berichtete. Manch einer, der am Unfallort äußerlich unversehrt umherläuft, ist in Wahrheit lebensgefährlich verwundet. Peleg brachte Beispiele, wo erst das CT tief in den Körper eingedrungene Splitter ausfindig machte, der Patient selber weiß vielleicht nur, dass etwas nicht stimmt, kann es aber nicht näher beschreiben.

In Israel hat man in jahrelanger leidvoller Erfahrung gelernt, die Notversorgung so zu optimieren, um nach der Katastrophe einen geregelten Versorgungsablauf in den Kliniken aufrecht zu erhalten. Und immerhin funktionierte auch in Paris nach den Attentaten vom 13. November 2015 die koordinierte Versorgung der Opfer überraschend gut. Es gab 130 Todesfälle, aber 354 Verletzte konnten in den Kliniken der französischen Hauptstadt versorgt werden, wie MD Julien Gaudric berichtete. Auch der Belgier MD Bart Vanderheyden berichtete von einer vergleichsweise gut koordinierten Versorgung in Brüssel nach den Anschlägen vom 22. März 2016. Vanderheyden überließ das Wort am Ende seines Vortrags einem der Großen der Wissenschaft: „Ich glaube unbedingt daran, dass Wissenschaft und Friede schließlich über Unwissenheit und Krieg triumphieren und die Völker der Erde übereinkommen werden, nicht zu zerstören, sondern aufzubauen.“ – Stammt von Louis Pasteur, 1822 – 1895, französischer Chemiker.

Weitere Informationen

http://dkou.org/kongress-satellitenprogramm/

Der nächste DKOU ist vom 24.-27. Oktober 2017 in Berlin.


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Die diesjährigen Kongresspräsidenten des DKOU v. l. n. r.: Dr. med. Manfred Neubert (BVOU), Prof. Dr. med. Florian Gebhard (DGU) und Prof. Dr. med. Heiko Reichel (DGOOC).(Bild: © Intercongress/Tobias Tanzyna)
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