Gesundheitswesen 2006; 68(11): 659-660
DOI: 10.1055/s-2006-927267
Grußwort

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Grußwort des Präsidenten der Bundesärztekammer zur Eröffnung des 56. ÖGD-Kongresses 2006 in Frankfurt (Oder) am 11. Mai 2006

Welcome Address by the President of the Federal Chamber of Physicians at the Opening Ceremony of the 56th ÖGD Congress 2006J.-D Hoppe1
  • 1Bundesärztekammer Berlin
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
02. Januar 2007 (online)

Ich freue mich sehr, heute bei Ihnen auf dem 56. ÖGD-Kongress hier in dieser für das deutschpolnische Verhältnis so wichtigen Stadt sein zu können. Sie haben als zukunftsweisendes Leitthema auch ein sehr schönes Motto gewählt: „Öffentlicher Gesundheitsdienst ohne Grenzen in der neuen Mitte Europas”. Die grenzüberschreitende Gefahr durch Infektionskrankheiten - das zeigt die Bedrohung durch H5N1 - erfordert grenzüberschreitende Kooperation des öffentlichen Gesundheitsdienstes bei der Bekämpfung von Seuchengefahren. Gegen eine Influenzapandemie ist national kein Kraut gewachsen - eine solche Gefahr kann nur international bewältigt werden.

In den frühen 80er-Jahren wurde diskutiert, ob man kommunale Gesundheitsämter überhaupt noch brauche. Wenn man bedenkt, dass damals gerade das Aidsvirus weltweit auf dem Vormarsch war, sind solche politischen Vorstöße aus heutiger Perspektive geradezu grotesk. Dennoch machen sie deutlich, dass der Öffentliche Gesundheitsdienst unter dem mangelnden Interesse gesundheitspolitisch einflussreicher Akteure leidet, die seine Interessen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene politikwirksam artikulieren könnten. Obdachlose, Migranten, Drogenabhängige, psychisch Kranke und viele andere, die von der Aufgabenwahrnehmung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes profitieren, stellen eben keine Klientengruppen dar, mit denen erfolgreich Lobbyarbeit betrieben werden kann.

Der Öffentliche Gesundheitsdienst befindet sich in einem gesellschaftlichen Spannungsfeld zwischen Individualisierung, Privatisierung und Deregulierung einerseits sowie staatlicher Daseinsvorsorge und Abwehr von Gesundheitsgefahren andererseits. So ist der Öffentliche Gesundheitsdienst zum Spielball auch finanzpolitischer Interessen geworden, in denen nur allzu gern das Geld über die öffentliche Gesundheit gestellt wird.

An die Stelle der bis dato staatlich definierten Aufgabenzuweisung an den Öffentlichen Gesundheitsdienst werden nun die unteren Gesundheitsbehörden per Gesetz zu Initiatoren und Koordinatoren kommunalpolitischer Perspektiven der Gesundheitsförderung bestellt. Das heißt zunächst einmal, dass letztlich nur bundes- und landesgesetzliche Aufgaben - also primär gesundheitspolizeiliche Aufgaben - finanziert werden müssen.

Die Akteure des Öffentlichen Gesundheitsdienstes sind daher nun selbst gefordert, notwendige Aufgaben politisch mehrheitsfähig einzubringen, zu implementieren und sich im kommunalpolitischadministrativen System zu behaupten. Nachhaltige kommunale Gesundheitspolitik ist angesichts der dramatischen Notlage der kommunalen Haushalte aber nur schwer durchsetzbar.

Besondere Bedeutung kommt neben der aufgabenspezifischen Qualifikation, welche multidisziplinäre Kompetenzen im Gesundheitsamt selbstverständlich zusammenführen muss, nun insbesondere neuen Herausforderungen zu, wie Koordination, Moderation, Öffentlichkeitsarbeit und Projektmanagement, Fähigkeiten, wie sie beispielsweise die Kommunalen Gesundheitskonferenzen einfordern.

In der Tat ist das Aufgabenspektrum des Öffentlichen Gesundheitsdienstes deutlich breiter geworden, seine Verantwortung für das öffentliche Wohl ist erheblich gestiegen. Die Ressourcen, mit denen er operieren muss, sind jedoch geschrumpft. So sind beispielsweise in den vergangenen Jahren kontinuierlich Arztstellen weggefallen. Da die Grenzen der Kompensationsfähigkeit längst erreicht sind, bedroht jede Fortführung der Sparmaßnahmen schmerzlich die Leistungsfähigkeit.

Wir sind es wie selbstverständlich gewohnt, dass der Öffentliche Gesundheitsdienst ein hervorragendes Krisenmanagement betreibt, ob es nun gilt, sich der bioterroristischen Bedrohung zu stellen - ich erinnere an die Pockenproblematik nach dem 11. September 2001 - oder aktuell den Nationalen Influenzapandemieplan umzusetzen. Solche Szenarien sind sicherlich geeignet, gerade die Politik die Notwendigkeit eines gut funktionierenden Öffentlichen Gesundheitsdienstes erkennen zu lassen. Dass dieser nicht allein von politischer Opportunität oder Beliebigkeit abhängen darf, möchte ich an einem Beispiel aus der Gesundheitshilfe deutlich machen:

Die Lungentuberkulose ist eine Erkrankung der Sozialschwachen. Diese haben unter den Regelungen des GKV-Modernisierungsgesetzes 2004 nun einen bedeutenden Anstieg der finanziellen Belastung zu tragen. Schätzungen gehen davon aus, dass 10 - 20 % der Tuberkulosepatienten finanziell bedingte Complianceprobleme haben und aus Ersparnisgründen Kontrolluntersuchungen versäumen, Rezepte nicht oder verspätet einlösen, die Medikamente unregelmäßig einnehmen oder gar absetzen. Die drohenden Folgen sind höhere Raten von Reaktivierungen und Neuerkrankungen und insbesondere die Resistenzbildung der Tuberkulosebakterien.

Dass dieses Problem erkannt und thematisiert wurde, verdanken wir den Ärztinnen und Ärzten des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Seine Lösung allerdings muss gesundheitspolitisch erfolgen und darf nicht dauerhaft darin bestehen, dass die Gesundheitsämter substitutiv die Kosten aus öffentlichen Mitteln tragen.

Dieses Beispiel ist auch geeignet, zwei andere wichtige Aufgabenbereiche des Öffentlichen Gesundheitsdienstes zu thematisieren:

Wie keinen anderen Akteur im Gesundheitswesen befähigen ihn seine epidemiologischen Erkenntnisse, einerseits sektorale Versorgungsprobleme zu entdecken und zu problematisieren und andererseits eine besondere Rolle in der Steuerung der gesundheitlichen Prävention und Gesundheitsförderung einzunehmen. Daher ist zu hoffen, dass das so genannte Präventionsgesetz - wenn es denn kommt - den Öffentlichen Gesundheitsdienst in diesem Arbeitsfeld angemessen berücksichtigt und insbesondere mit den erforderlichen Finanzmitteln ausstattet.

Meine Damen und Herren, wenn auch die Ausweitung der Aufgaben des Öffentlichen Gesundheitsdienstes unter derzeitigen Haushaltsbedingungen eine fast nicht meisterbare Herausforderung darstellt, so hat sie doch zumindest einen positiven Aspekt:

Sie fordert und fördert ein neues Berufsleitbild, das geprägt ist durch die Kombination hoher Fach- und Sachkompetenz mit großen Kommunikations- und Managementfähigkeiten der Mitarbeiter, besonders der Ärztinnen und Ärzte. Das neue Berufsleitbild muss auch durch imagebildende Maßnahmen gestärkt werden, um auch der nachwachsenden Ärztegeneration die Attraktivität einer ärztlichen Tätigkeit im ÖGD zu vermitteln. Dies ist umso wichtiger, als dass in den nächsten Jahren ein tiefgreifender Generationswechsel ansteht, der nur gelingen kann, wenn ausreichend ärztlicher Nachwuchs zur Weiterbildung interessiert wird.

Um diesen Prozess zu unterstützen, hat der 106. Deutsche Ärztetag 2003 eine Novellierung der Musterweiterbildungsordnung im Gebiet „Öffentliches Gesundheitswesen” beschlossen. Diese haben wir im Kammerbereich Nordrhein bereits umgesetzt. Wenn das Ministerium in diesen Tagen seine Zustimmung gibt, werden folgende Neuheiten wesentlich sein:

Die Zuständigkeit zur Regelung dieser Weiterbildung, vor allem seine inhaltliche Gestaltung, wird von der staatlichen Ebene auf die Ärztekammern übertragen, in denen Sie mitwirken. Das Gebiet wird für Ärzte aller klinischen Fächer geöffnet, die eine 36-monatige Klinikzeit nachweisen können.

Uns ist es verständlicherweise ein besonderes Anliegen, dass die Leitung von Gesundheitsämtern ausschließlich Ärzten mit abgeschlossener Weiterbildung zum Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen vorbehalten bleibt. So ist unseres Erachtens am besten zu gewährleisten, dass Entscheidungen nicht nur ökonomischen und politischen Zwängen folgen, sondern auf einer angemessenen Abwägung medizinischer Gesichtspunkte beruhen.

Aus Sicht des Partners Ärzteschaft lässt sich hinsichtlich des Anforderungsprofils an den Öffentlichen Gesundheitsdienst daher folgendes Fazit festhalten:

Es ist eine wichtige Aufgabe des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, sich mit einem positiven Image Präsenz im Bewusstsein von Politik und Bürgern zu verschaffen. Es gilt, jegliche Bescheidenheit abzulegen und sein erfolgreiches kommunales Wirken deutlich zu kommunizieren, gemäß dem Motto: „Tue Gutes und rede drüber”. In NRW geht die Kommunalisierung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes mit einer potenziellen Isolation der Gesundheitsämter einher. Diese zu überwinden und landesweite Schlagkraft zu entwickeln, ist vor allem für kleinere und finanzschwache untere Gesundheitsbehörden eine existenzielle Frage. Der Öffentliche Gesundheitsdienst kann und sollte sich Partner suchen, die ihn in diesem Anliegen politisch unterstützen. Neben der Akademie für den Öffentlichen Gesundheitsdienst kann auch den Gremien, besonders der Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein als Kommunikationsforum eine besondere Bedeutung zukommen. Eine Aufgabe mit hoher Priorität ist es, die Attraktivität des Berufsbildes Arzt im Öffentlichen Gesundheitsdienst zu steigern und damit qualifizierten Nachwuchs zu gewinnen.

Dies sind wichtige Voraussetzungen, notwendige Aufgaben auch in Zukunft leistungsstark und kompetent zum Wohle der Öffentlichen Gesundheit zu erbringen.

Neben den klassischen Leistungsangeboten, die hier nur beispielsweise angeführt werden sollen, wie Medizinalaufsicht, Infektionsschutz, Lebensmittelüberwachung und ärztliche Begutachtung sehen wir augenblicklich als herausragendste Aufgabe die Gesundheitshilfe:

Die Erschütterungen, die unser Sozialversicherungssystem derzeit erfährt, haben gemessen an der Dynamik, welche sich durch die demografische Entwicklung ankündigt, ihren Höhepunkt noch lange nicht erreicht: Neben steigender Armut wird zukünftig auch die Gesellschaft des langen Lebens die sozialkompensatorische Leistungsfähigkeit des Öffentlichen Gesundheitsdienstes herausfordern.

Politikberatung wird daher im Aufgabenkanon eine wesentliche Priorisierung erfahren.

Der Aufgabenbereich Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung wird unverzichtbar, da seine Erkenntnisse es gestatten, sektorale Versorgungsprobleme zu identifizieren und ihnen im Rahmen der Gesundheitsplanung entgegenzutreten.

Die sozialkompensatorischen Leistungen der Gesundheitshilfe werden als nachgehende und aufsuchende Dienste eine wesentliche Ergänzung des ambulanten und stationären Sektors darstellen.

So mögen die anstehenden Aufgaben deshalb für den einen oder anderen unlösbar erscheinen. Die Vergangenheit hat aber gezeigt, dass der Öffentliche Gesundheitsdienst große Herausforderungen bisher stets souverän gemeistert hat.

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