Dtsch Med Wochenschr 2000; 125(42): 1249
DOI: 10.1055/s-2000-7846
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Brauchen wir mehr Ernährungsmedizin?

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Publication Date:
31 December 2000 (online)

In einem 1993 veröffentlichten Bericht des Bundesministeriums für Gesundheit wurden die Kosten für ernährungsabhängige Krankheiten in Deutschland mit rund 83,5 Milliarden DM oder 30 % aller Ausgaben im Gesundheitswesen beziffert [3]. Diese Untersuchung machte erstmals die ökonomische Bedeutung der Ernährung für die Behandlung zahlreicher Volkskrankheiten deutlich. Die Antwort der Ärzteverbände und Gesundheitspolitiker kam prompt: Es wurden Appelle formuliert und Resolutionen beschlossen mit dem Ziel, die Ernährungsmedizin in Deutschland zu fördern und an den Medizinischen Fakultäten besser zu etablieren. Bekanntlich blieb alles Schall und Rauch.

Die Antwort auf die Frage, welchen Leistungen unser Gesundheitssystem zur Vermeidung sowie Behandlung ernährungsabhängiger Krankheiten anbietet, fällt überaus ernüchternd aus. Ernährungsmedizin ist in Deutschland leider eine so gut wie nicht existente Disziplin. Zu eklatant sind die strukturellen Defizite und die fehlenden Ressourcen auf diesem Gebiet. Der internationale Vergleich zeigt, dass die Ernährungsmedizin in keinem anderen Industrieland von der praktischen Medizin bis hin zur universitären Forschung so stiefmütterlich behandelt wird wie in Deutschland.

Dabei ist der Handlungsbedarf unübersehbar. Die Verbreitung ernährungsabhängiger Krankheiten betrifft alleine in Gestalt des Übergewichts/Adipositas inzwischen über 50% der deutschen Bevölkerung. Auch an anderen kardiovaskulären Risikofaktoren wie Typ-2-Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen und Hypertonie, die ebenfalls maßgeblich durch das Ernährungsverhalten beeinflusst werden, leiden viele Millionen Deutsche. Dennoch gibt es bestenfalls punktuelle Ansätze, um diese Krankheiten durch ernährungsmedizinische Strategien einzudämmen.

Welchen enormen Nutzen Maßnahmen zur Verbesserung der Ernährung auf Bevölkerungsebene haben können, ist gerade für die kardiovaskulären Krankheiten hinlänglich belegt. Der Rückgang der hohen kardiovaskulären Morbidität und Mortalität in den letzten 25 Jahren ist weniger das Ergebnis extrem kostspieliger Interventionsmaßnahmen wie Bypass-Chirurgie, PTCA oder Stent, sondern im Wesentlichen auf Veränderungen im Gesundheitsverhalten zurückzuführen. So konnte beispielsweise in Finnland die kardiovaskuläre und zerebrovaskuläre Mortalität bei Männern und Frauen zwischen 1970 und 1995 um 65-70 % gesenkt werden. Dieser Erfolg war in erster Linie das Ergebnis einer kontinuierlichen Aufklärung der Bevölkerung, die schließlich über eine Änderung des Lebensstils, darunter auch der Ernährungsweise, zum Rückgang kardiovaskulärer Risikofaktoren wie Hypercholesterinämie und Hypertonie führte [4]. Selbst in der Sekundärprävention lassen sich durch gezielte ernährungsmedizinische Maßnahmen überraschende Ergebnisse erzielen. Eindrucksvollstes Beispiel dafür ist die Lyon Heart Study, in der die Inzidenz kardiovaskulärer Zweitereignisse durch eine mediterrane Kost im Vergleich zur Step-1-Diät der American Heart Association um nahezu 70 % reduziert werden konnte [1]. Bemerkenswert an dieser Studie ist vor allem, dass relativ einfache Ernährungsempfehlungen eine größere Senkung der kardiovaskulären Mortalität bewirkten als dies selbst bei einer cholesterinsenkenden Therapie mit CSE-Hemmern zu erwarten wäre. In wie vielen deutschen Kliniken erhalten Patienten nach einem kardiovaskulären Ereignis aber eine adäquate ernährungsmedizinische Beratung? Gleiches lässt sich auch für den Typ-2-Diabetes mellitus feststellen. Die weltweit dramatische Zunahme des Diabetes mellitus ist zu allererst die Folge von Übergewicht. Mit gewaltigen Werbeetats wird derzeit in Deutschland eine möglichst »intensivierte« Insulintherapie für Typ-2-Diabetiker propagiert. Dabei wird bewusst oder unbewusst außer Acht gelassen, dass 80 % dieser Diabetiker übergewichtig bis adipös sind und ein ähnlich hoher Prozentsatz nie eine adäquate Ernährungsberatung erhalten hat, obwohl längst bekannt ist, dass eine diabetesgerechte, mäßig hypokalorische Kost erhebliche Ressourcen sparen helfen könnte.

Trotz des unverständlichen Desinteresses an diesem Thema bei vielen Verantwortlichen im Gesundheitswesen scheint die Ernährungsmedizin in jüngster Zeit an Aufmerksamkeit zu gewinnen. So interessieren sich in zunehmendem Maße niedergelassene Mediziner für praktische Ernährungstherapie. Kürzlich haben sich vier Fachgesellschaften zusammengetan, um erstmals Qualitätskriterien für die ambulante Adipositastherapie festzulegen, die dazu beitragen sollen, eine wissenschaftlich begründete Adipositastherapie in Praxen niedergelassener Ärzte mit ernährungsmedizinischer Zusatzqualifikation zu etablieren [2]. Auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das Bundesministerium für Bildung und Forschung haben vor kurzem erklärt, ernährungsmedizinische Projekte zu fördern, auch wenn es mangels kritischer Masse noch Jahre dauern dürfte, bis eine international kompetitive Forschung auch auf breiterer Basis betrieben werden kann. Wir sollten alle Chancen nutzen, damit die Ernährungsmedizin den ihr gebührenden Stellenwert im deutschen Gesundheitswesen erhält. Nach meiner festen Überzeugung ließe sich damit die kardiovaskuläre Morbidität in den nächsten 20 Jahren um bis zu 50 % senken.

Literatur

  • 1 De Lorgeril M, Salen P, Martin J -L, Monjaud I, Delaye J, Mamelle N. Mediterranean diet, traditional risk factors, and the rate of cardiovascular complications after myocardial infarction. Final report of the Lyon Diet Health Study.  Circulation. 1999;  99 779-785
  • 2 Hauner H, Wechsler J G, Kluthe R, Liebermeister H, Erbersdobler H, Wolfram G, Fürst P, Jauch K W. Qualitätskriterien für ambulante Adipositasprogramme.  Akt Ernähr Med. 2000;  25 163-165
  • 3 Kohlmeier L, Kroke A, Pötzsch J, Kohlmeier M, Martin K. Ernährungsabhängige Krankheiten und ihre Kosten. Band 27 Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit. Nomos, Baden-Baden 1993
  • 4 Puska P, Vartiainen E, Tuomilehto J, Salomaa V, Nissinen A. Changes in premature deaths in Finland: Successful long-term prevention of cardiovascular diseases.  Bull World Health Ass. 1998;  76 419-425

Prof. Dr. H. Hauner

Klinische Abteilung Deutsches Diabetes-Forschungsinstitut

an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Auf’m Hennekamp 65

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