Laryngorhinootologie 2016; 95(11): 790-794
DOI: 10.1055/s-0042-118234
Gutachten+Recht
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Aus der Gutachtenpraxis: Hörverlustberechnung aus Sprachaudiogramm oder aus Tonaudiogramm?

From the Expert’s Office: Calculation of Hearing Loss by Speech-Audiogram or by Sinus-Tone-Audiogram?
T. Brusis
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
09. November 2016 (online)

Allgemeines zur sprachaudiometrischen Messung

Nach der Königsteiner Empfehlung (2012) stellt der sprachaudiometrische Befund die wichtigste Grundlage für die Hörverlustberechnung und die Einschätzung der MdE dar. Das Tonaudiogramm kann bei der beginnenden Schwerhörigkeit in die Bewertung mit einbezogen werden oder wenn kein Sprachaudiogramm vorhanden ist oder erstellt werden kann (z. B. bei einem Aktengutachten oder der gutachtlichen Beurteilung eines Verstorbenen).

Die Verwendung der audiometrischen Befunde setzt voraus, dass diese zutreffend sind, d. h. dem tatsächlichen Gehör des Probanden entsprechen. Dafür ist es notwendig, eine Plausibilitätsprüfung der Befunde durchzuführen:

Die tonaudiometrischen und sprachaudiometrischen Kurven dürfen keine Stufen und/oder Sprünge aufweisen. Im Sprachaudiogramm muss die Verständlichkeitskurve für Zahlwörter parallel zur Normalkurve verlaufen; die Kurven für die Zahlwörter und Einsilber müssen in angemessenem Abstand zueinander verlaufen (von Wedel 2001). 100% Sprachverständlichkeit wird (fast) immer erreicht (Brusis, Wolf u. Meister 2013).

Systematische Unterschiede bei wiederholten sprachaudiometrischen Untersuchungen oder bei Prüfung durch verschiedene Untersucher haben vor allem 3 Gründe:

  • Mangelnde Mitarbeit des Untersuchten: er spricht Wörter gar nicht oder nicht richtig nach, obwohl er sie richtig verstanden hat: Aggravation, zu schlechtes Ergebnis!

  • Der Untersucher bemüht sich, das Ergebnis aufzubessern, indem er einzelne Wörter mehrmals anbietet oder nicht ganz richtig wiederholte Wörter als richtig akzeptiert, z. B. im Bestreben, die sprachliche Inkompetenz eines Ausländers auszugleichen: zu gutes Ergebnis!

  • Untersuchungen haben ergeben, dass jemand, der vorgesprochene Wörter erkennen soll, sich häufig täuscht und glaubt, diese richtig und sicher verstanden zu haben, während er sie tatsächlich falsch verstanden hat. Der Audiologieassistent, der ein Sprachaudiogramm aufnimmt, kennt selbstverständlich jedes angebotene Wort und seine Erwartung ist darauf gerichtet, dass der Untersuchte dieses Wort auch richtig nachspricht. Es besteht dann eventuell die Gefahr, dass er in das vom Untersuchten Nachgesprochene die richtigen Wörter „hineinhört“, obwohl dieser, vielleicht mit fremdsprachlichem Akzent, falsch oder ähnlich klingende Wörter gesprochen hat. Dies hat dann ein fälschlich zu gutes Audiogramm zur Folge.

Diese Fehlermöglichkeiten sollten dem Untersucher immer gegenwärtig sein, sodass er sie erkennt und nach Möglichkeit ausschaltet (Feldmann u. Brusis 2012). Tonaudigramm und Sprachaudiogramm müssen zueinander in guter Korrelation stehen (Braun et al. 2011)!

 
  • Literatur

  • 1 Braun T et al. Korrelation von Tonschwellenaudiogramm und Hörverlust für Zahlen. HNO 2011; 59: 908-914
  • 2 Brusis T, Wolf U, Meister EF. Die Königsteiner Empfehlung von 2012 – Wesentliche Neuerungen und Änderungen. Laryngo-Rhino-Otol 2013; 92: 647-654
  • 3 Feldmann Hu, Brusis T. Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes. 7. Aufl. Thieme Verlag; 2012
  • 4 Theissing J. Bemerkung zur Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit. Laryngo-Rhino-Otol 1979; 58: 303-305
  • 5 Wedel von H. Viele Fehlermöglichkeiten in der Ton- und Sprachaudiometrie. HNO 2001; 49: 939-959