Gesundheitswesen 2015; 77(12): 949-957
DOI: 10.1055/s-0035-1548805
Übersichtsarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Mindeststandards für die räumliche Erreichbarkeit hausärztlicher Versorgung: Ein systematischer Review

Minimum Standards for the Spatial Accessibility of Primary Care: A Systematic Review
S. Voigtländer
1   Sachgebiet GE 6 „Versorgungsqualität, Gesundheitsökonomie, Gesundheitssystemanalyse“, Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Nürnberg
,
T. Deiters
1   Sachgebiet GE 6 „Versorgungsqualität, Gesundheitsökonomie, Gesundheitssystemanalyse“, Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Nürnberg
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
28. April 2015 (online)

Zusammenfassung

Hintergrund: In Deutschland bestehen erhebliche regionale Unterschiede im Zugang zu hausärztlicher Versorgung, insbesondere hinsichtlich der räumlichen Erreichbarkeit. Es existiert jedoch kein rechtlich bzw. allgemein verbindlicher Mindeststandard dahingehend, welcher Erreichbarkeitsaufwand als zumutbar gilt. Ziel dieses Artikels ist die Analyse existierender Mindeststandards für die räumliche Erreichbarkeit hausärztlicher Versorgung sowie der dabei verwendeten Methoden und empirischen Grundlagen.

Methodik: Systematische Literaturrecherche nach Veröffentlichungen zu Mindeststandards für die räumliche Erreichbarkeit hausärztlicher Versorgung mittels Titel- und Schlagwortsuche in den Datenbanken PubMed, SSCI/Web of Science, EMBASE und Cochrane Library.

Ergebnisse: Es konnten 8 Mindeststandards aus den USA, Deutschland und Österreich identifiziert werden. Davon machen alle Vorgaben zum Erreichbarkeitsaufwand in Form von Reisezeit; die Hälfte gibt den zumutbaren Erreichbarkeitsaufwand auch in Form von Entfernung(en) an. Kein Standard setzt die maximal zumutbare Reisezeit höher als 30 min an, wobei in Städten tendenziell eine niedrigere Reisezeit als zumutbar erachtet wird. Hausärztliche Versorgung wird dabei als Dienstleistung des täglichen Bedarfs verstanden, der im Nahbereich sogenannter Zentraler Orte abgedeckt werden soll. Die Berücksichtigung von Transportmitteln, z. B. öffentlichen Verkehrsmitteln, ist uneinheitlich. Die Grundlagen der Standards reichen von empirischen Studien, Beratungen mit der Leistungserbringerseite und praktischen Erfahrungen bis hin zu Vorgaben der Raumordnung und Landesplanung sowie gesetzlichen Regelungen bzw. politischen Vorgaben.

Schlussfolgerungen: Die identifizierten Mindeststandards geben wichtige Hinweise auf den zumutbaren Erreichbarkeitsaufwand hinsichtlich Reisezeit, Entfernung(en) und Transportmittel. Es scheint sinnvoll, das jetzige Bedarfsplanungssystem auf Basis der Verhältniszahlen-Methode um eine sogenannte Zugänglichkeits-Methode zur Identifikation von Orten bzw. Bevölkerungen mit schlechter räumlicher Erreichbarkeit zu ergänzen. Mangels eines allgemeinen Erreichbarkeitsstandards wird zunächst die Anwendung eines Schwellenwertes auf Basis der Erreichbarkeitsfrist des Nahbereichs zur weiteren Diskussion vorgeschlagen, nämlich maximal 30 min mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum nächsten verfügbaren Hausarztstandort für zumindest 90% der regionalen Bevölkerung. Wird dieser Schwellenwert überschritten, sind ein Versorgungsdefizit und damit einhergehend ein möglicher Interventionsbedarf, z. B. hinsichtlich alternativer Versorgungsformen, zu diskutieren.

Abstract

Background: Regional disparities of access to primary care are substantial in Germany, especially in terms of spatial accessibility. However, there is no legally or generally binding minimum standard for the spatial accessibility effort that is still acceptable. Our objective is to analyse existing minimum standards, the methods used as well as their empirical basis.

Methods: A systematic literature review was undertaken of publications regarding minimum standards for the spatial accessibility of primary care based on a title word and keyword search using PubMed, SSCI/Web of Science, EMBASE and Cochrane Library.

Results: 8 minimum standards from the USA, Germany and Austria could be identified. All of them specify the acceptable spatial accessibility effort in terms of travel time; almost half include also distance(s). The travel time maximum, which is acceptable, is 30 min and it tends to be lower in urban areas. Primary care is, according to the identified minimum standards, part of the local area (Nahbereich) of so-called central places (Zentrale Orte) providing basic goods and services. The consideration of means of transport, e. g. public transport, is heterogeneous. The standards are based on empirical studies, consultation with service providers, practical experiences, and regional planning/central place theory as well as on legal or political regulations.

Conclusions: The identified minimum standards provide important insights into the effort that is still acceptable regarding spatial accessibility, i. e. travel time, distance and means of transport. It seems reasonable to complement the current planning system for outpatient care, which is based on provider-to-population ratios, by a gravity-model method to identify places as well as populations with insufficient spatial accessibility. Due to a lack of a common minimum standard we propose – subject to further discussion – to begin with a threshold based on the spatial accessibility limit of the local area, i. e. 30 min to the next primary care provider for at least 90% of the regional population. The exceeding of the threshold would necessitate a discussion of a health care deficit and in line with this a potential need for intervention, e. g. in terms of alternative forms of health care provision.

 
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