Gesundheitswesen 2010; 72 - P100
DOI: 10.1055/s-0030-1266607

Zahnmedizinische individualisierte Primärprävention – Struktur, Kosten, Effektivität

H Strippel 1
  • 1Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund e.V. (MDS), Essen

Einleitung: 1989 wurden Individualprophylaxe (IP) und Gruppenprophylaxe (GP) und 2000 zahnärztliche Früherkennungsuntersuchungen für Kinder und Jugendliche GKV-Leistungen. Gesetzlich vorgegebene IP-Inhalte sind Mundhygiene-Anleitung und -kontrolle, Fissurenversiegelung und Fluoridanwendung. Zahnarztpraxen bieten als Privatleistung die „Professionelle Zahnreinigung“ an. Betreuungsgrad und Effektivität: In der GP in Kindertagesstätten und Schulen erhalten nur etwa 10% der Kinder Fluoridanwendungen. So wird der potenzielle Nutzen (15–48% Karieshemmung) unzureichend realisiert. 47% der Eltern berichten über eine mindestens einmal jährliche IP-Fluoridanwendung in der Zahnarztpraxis. Fissurenversiegelungen übertreffen vermutlich die Effektivität von Fluoridlackanwendung, schützen den Zahn allerdings nicht an allen Zahnflächen. Durchschnittlich ist bei den 9- und 12-Jährigen nur ein Molar fissurenversiegelt, bei Kindern mit Migrationsgeschichte nur maximal halb so viele. Der starke Kariesrückgang seit Anfang der 1970er Jahre wurde nach Expertenmeinung durch Hinzufügen von Fluorid zu Zahnpasten („Verhältnisprävention durch Angebotsmodifikation“) verursacht. Gruppen mit unterschiedlichem Erkrankungsrisiko profitierten davon gleichermaßen. Es gibt keinen Hinweis, dass die finanziell aufwändigste Maßnahme, die IP, den Kariesrückgang beschleunigt hätte. Wegen der häufig nicht risikoadäquaten Inanspruchnahme der Komm-Struktur der IP ist diese nicht geeignet, sozial bedingte Unterschiede beim Mundgesundheitszustand gezielt zu verbessern. – In der Erwachsenenbetreuung ist der mögliche primärpräventive Effekt der professionellen Zahnreinigung unklar. Kosten: Für die IP wandten die Krankenkassen 2008 426 Mio. Euro auf. Die Ausgaben für GP liegen bei 41 und für Kinder-Früherkennungsuntersuchungen bei 11 Mio. Euro. Zweimal jährlich aufsuchende GP-Prophylaxe und Fluoridlackanwendung mit viermal jährlicher Betreuung einer Kariesrisiko-Gruppe kostet 27 Euro je Kind. Die Kosten für die IP liegen etwa beim Dreifachen. Bewertung: Die Kosten-Nutzen-Relation der Fluoridierung in der IP ist erheblich schlechter als die der häuslichen oder gruppenprophylaktischen Anwendung. Die Angebotsstruktur der IP und GP und die Ausgaben verhalten sich umgekehrt proportional zur Effizienz. Empfehlungen: Zahnärzte sollten die IP bedarfsorientierter einsetzen. Die GP sollte in Richtung auf Durchsetzung effektiver Programme umstrukturiert werden. Aufsuchende GP-Konzepte sind gegenüber praxisbasierten Angeboten zu bevorzugen.