Gesundheitswesen 2010; 72 - P67
DOI: 10.1055/s-0030-1266574

Gesundheitliche Benachteiligung beginnt lange vor der Geburt – Aktuelle Analysen zur prä- und perinatalen Gesundheit und deren Determinanten auf Basis der deutschen Perinataldaten

S Schneider 1, B Höft 1, S Röhrig 1, N Freerksen 2, H Maul 3
  • 1Universität Heidelberg, Mannheimer Institut für Public Health/Kompetenzzentrum für Sozialmedizin und betriebliche Gesundheitsförderung, Mannheim
  • 2Frauenklinik für Gynäkologie und Geburtsmedizin, Universitätsklinikum der RWTH Aachen, Aachen
  • 3Frauenklinik des Katholischen Marienkrankenhauses Hamburg, Hamburg

Einleitung: Die sozialepidemiologische Ungleichheitsforschung fordert zunehmend die Berücksichtigung der „Lebenslauf-Perspektive“ (Richter/Hurrelmann 2006) und die Einbeziehung der „Entwicklung im Mutterleib als kritische Periode der Krankheitsentstehung“ (Dragano/Siegrist 2006). Eine Sonderauswertung der deutschen Perinataldaten soll die Frage beantworten, wie stark sich das Gesundheits- und Präventionsverhalten Schwangerer unterscheidet und inwieweit es gleiche gesundheitliche Startchancen zu Beginn des Lebens unterminiert. Material und Methoden: Diese Studie basiert auf den Kohorten 2005 und 2006 der Deutschen Perinatalerhebung. Diese stellt eine Vollerhebung aller Krankenhausgeburten eines Kalenderjahres dar. Ausgewertet wurden epidemiologische Informationen von 674.524 (2005) und 658.145 (2006) Einlinge aus den insgesamt 917 Geburtskliniken Deutschlands hinsichtlich maternaler Inanspruchnahme, Vorsorgeverhalten, Risikofaktoren sowie maternalem und kindlichem Outcome. Ergebnisse: Hinsichtlich des gesundheitsrelevanten Verhaltens Schwangerer existieren hierzulande gravierende soziale Unterschiede. So zeigten sich etwa hohe Raucherquoten und große Defizite in der pränatalen Schwangerschaftsvorsorge vor allem bei statusniedrigeren Schwangeren und Migrantinnen aus der Türkei und anderen Mittelmeeranrainerstaaten. Darüber hinaus ließen sich entlang weiterer soziodemographischer Merkmale mittels clusteranalytischer Verfahren insgesamt fünf Schwangerentypen identifizieren, was neben zwei Risikogruppen auch eine Gruppe Überversorgter dekuvrierte. Abschließend wurde der Zusammenhang prä- und perinataler Verhaltensaspekte und sozialer Merkmale mit dem Gesundheitszustand der Schwangeren und der Neugeborenen untersucht. Konfunderadjustiert zeigten sich für wichtige Outcomes (wie etwa Gestationsdiabetes, geringes Geburtsgewicht, Frühgeburtrisiko und perinatale Mortalität) signifikant höhere Risiken bei rauchenden und statusniedrigen Schwangeren. Dagegen standen die teilweise ausgeprägten Verhaltens- und Compliancedefizite von Migrantinnen nicht mit einem grundsätzlich schlechteren Schwangerschaftsverlauf in Zusammenhang. Schlussfolgerungen: Die Perinataldaten belegen eine problematische Risikokumulation in bestimmten Schwangerengruppen. Neben Defiziten in der Inanspruchnahme prä- und perinataler Präventionsangebote scheint vor allem Tabakkonsum während der Schwangerschaft die bedeutsamste verhaltensbedingte Einflussgröße auf die Gesundheit des Neugeborenen und damit auch auf sozial ungleich verteilte Startchancen zu Beginn des Lebens zu sein. Vor dem Hintergrund der deutlichen Verhaltensunterschiede und der resultierenden Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken verdienen prä- und perinatale Determinanten in der Diskussion um die Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit stärkere Beachtung geschenkt.