Gesundheitswesen 2010; 72 - P54
DOI: 10.1055/s-0030-1266562

Evidenzbasierte Beurteilung von unerwünschten Wirkungen – erhebliche Limitationen am Beispiel eines systematischen Reviews zu Iodine Thyroid Blocking (ITB)

L Striedelmeyer 1, L Krille 2, C Reiners 3, H Zeeb 1
  • 1BIPS, Universität Bremen, Bremen
  • 2IMBEI, Universität Mainz, Mainz
  • 3Klinik für Nuklearmedizin, Universität Würzburg, Würzburg

Hintergrund: Im Auftrag der WHO wird ein systematisches Review zu Nebenwirkungen von Kaliumjodid, welches zum Schutz der Bevölkerung vor Schilddrüsenerkrankungen bei nuklearen Notfällen eingesetzt wird, durchgeführt. Kaliumjodid blockiert die Schilddrüse, sodass radioaktives Jod nicht aufgenommen wird. Die Beantwortung einer nach EBM-Kriterien formulierten Forschungsfrage zu seltenen Nebenwirkungen wirft aber Probleme auf, die am diesem Beispiel dargestellt werden. Methode: Studien zur Gabe von Kaliumjodid an eine Bevölkerungsgruppe wurden systematisch u.a. mit den Begriffen „thyroid blocking“ und „iodine“ in Pubmed, EMBASE, Cochrane database of systematic reviews und einigen online Nebenwirkungsdatenbanken anhand eines Rechercheprotokolls durchsucht. In Bezug auf Nebenwirkungen von ITB haben 2 Personen ca. 800 Artikel zur näheren Betrachtung ausgewählt. Da Nebenwirkungen häufig in Einzelfallbeschreibungen dargestellt werden, wurden diese gesondert in einer Datenbank registriert, aber zunächst nicht in die Analyse einbezogen. Ergebnisse: Von 26 ausgewählten Artikeln wurden weitere 8 Artikel kriterienbasiert ausgeschlossen. Unter den übrigen 18 Artikeln sind 9 Reviews, 3 nicht repräsentative Studien mit 8 bis 31 Personen und 6 Studien unterschiedlicher Designs, v.a. Querschnittsstudien. Somit erreicht dieses Review nur das niedrige Evidenzlevel 4 nach der fünfstufigen Klassifikation des Oxford Centre for Evidence Based Medicine. 136 Fallbeschreibungen bezogen sich auf eine Vielzahl von Einzelsymptomen und Folgeerkrankungen, die von Kopfschmerzen über Iododerma bis zu Hypothyreose reichten. Diskussion: Ein systematisches Review zur evidenzbasierten Beurteilung unerwünschter Wirkungen einer spezifischen Präventionsmaßnahme kann erhebliche Probleme mit sich bringen, da v.a. auf Fallbeschreibungen zurückgegriffen werden muss. Im Spannungsfeld zwischen fehlender systematischer Evidenz und dennoch notwendigen Empfehlungen/Leitlinien von Präventionsmaßnahmen wie im Fall von Kaliumjodid müssen alternative Möglichkeiten der Evidenzbasierung diskutiert werden. Die Nutzung pharmakoepidemiologischer Datenbanken sowie ggf. Simulationsstudien zu vorhandenen Spontanmeldungen über unerwünschte Wirkungen können möglicherweise die systematische Beurteilung unterstützen, ohne dass hohe Evidenzlevel erreicht werden.