Gesundheitswesen 2010; 72 - WS63
DOI: 10.1055/s-0030-1266479

Grundlagen der Priorisierung in Großbritannien – Ergebnisse einer Länderstudie (eingeladener Vortrag)

T Meyer 1, H Raspe 1
  • 1Universität zu Lübeck, Lübeck

Aus historischer Perspektive ist das National Health System (NHS) schon seit langer Zeit mit dem Problem deutlich begrenzter Ressourcen für die medizinische Versorgung konfrontiert. Die vorliegende Studie zielt darauf, Ansätze der Priorisierung im englischen NHS zu identifizieren und zu beschreiben. Grundlage der Analyse stellen Literaturrecherchen sowie Ergebnisse aus Experteninterviews dar. Der Begriff Priorisierung wird in England in der Regel für handlungsnahe Entscheidungen verwendet. Zum einen findet sich der Begriff als Synonym für Rationierung. Es werden damit aber auch auf verschiedenen Entscheidungsebenen im NHS unterschiedliche Formen oder Prozesse der Prioritätenbildung im Sinne der gedanklichen Bildung von Rangordnungen gekennzeichnet. Auf nationaler Ebene erstellt das Department of Health eine Prioritätenliste, auf deren Grundlage die Primary Care Trusts (PCTs) in Absprache mit den Strategic Health Authorities (SHA) eigene Prioritäten auswählen können. Das National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) kann durch die Erstellung von Expertisen (guidances, technology appraisals) bestimmte Maßnahmen priorisieren. Die einzelnen PCTs stehen als „Einkäufer“ von Versorgungsleistungen vor der Notwendigkeit zu priorisieren. Dazu hat das Nationale Netzwerk der PCTs in Zusammenarbeit mit der NHS Confederation Empfehlungen herausgegeben. In einigen Regionen wurden sogenannte ethical frameworks entwickelt, auf deren Grundlage priorisiert werden kann und die die Grundlage für Entscheidungen über Ressourcenallokationen bilden. Die eigentliche Aufgabe der Priorisierung im englischen NHS haben die PCTs, die dieser Aufgabe mehr oder weniger explizit nachkommen. Allerdings werden die PCTs durch die Vorgaben des Department of Health und des NICE stark beeinflusst. Faktisch zieht sich die nationale Ebene darauf zurück vorzugeben, was prioritär ist (inkomplette Priorisierung) und legt keine Rechenschaft darüber ab, was als nachrangig bzw. überflüssig zu betrachten ist (komplette Priorisierung). Einzelne PCTs oder auch Zusammenschlüsse von PCTs haben Priorisierungskriterien und/oder -verfahren entwickelt, um Entscheidungen zur Ressourcenallokation auf eine explizite, nachvollziehbare Grundlage zu stellen.