Gesundheitswesen 2010; 72 - WS61
DOI: 10.1055/s-0030-1266477

Priorisierung in der Medizin – Was können wir von Dänemark lernen? (eingeladener Vortrag)

S Pornak 1, T Meyer 1, H Raspe 1
  • 1Institut für Sozialmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, Lübeck

In Dänemark wird schon seit Mitte der 1970er Jahre über Priorisierung in der Medizin diskutiert. Hier liegt somit ein reichhaltiger Erfahrungsschatz vor, von dem die relativ junge deutsche Priorisierungsdebatte profitieren kann. Im Rahmen des Teilprojekts B4 der DFG Forschergruppe FOR655 („Priorisierung in der Medizin: Eine theoretische und empirische Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Gesetzlichen Krankenversicherung“) wurde die dänische Priorisierungsdebatte untersucht, um Anregungen für die deutsche Diskussion zu gewinnen. Die Methodik umfasste Analysen dänischer Primärliteratur wie Artikel aus Fachzeitschriften und Tageszeitungen, Kongressbeiträge und Stellungnahmen von Institutionen, sowie Experteninterviews. Die dänische Debatte wird in erster Linie von Politikern, Ärzten, Ethikern und Gesundheitsökonomen geführt, wobei ein großer Wert auf Bürgerbeteiligung gelegt wird. In diesem Beitrag soll vor allem auf die umfangreiche Tätigkeit des dänischen Ethikrates eingegangen werden, der in den 1990er Jahren – dem bisherigen Höhepunkt der dänischen Priorisierungsdebatte – eine führende Rolle einnahm. Der Ethikrat stellte in seinem umfangreichen Wirken die Auseinandersetzung mit Priorisierungskriterien in den Vordergrund. In der Diskussion waren vor allem die Kriterien Schwere der Krankheit, Alter, Nutzen für die Gesellschaft und Selbstverschulden. Während das erstere Kriterium im Ethikrat auf breite Zustimmung stieß, wurde das Alter des Patienten als ein nur in Ausnahmefällen in Priorisierungsentscheidungen einzubeziehendes Kriterium angesehen. Die letztgenannten zwei Kriterien wurden gänzlich abgelehnt. Bisher ist nur wenig von der dänischen Priorisierungsdiskussion konkret in die Praxis der Gesundheitsversorgung umgesetzt worden. Durch den schon langen Vorlauf der Diskussion erscheint die Haltung zur Priorisierung in der Medizin jedoch heute in Dänemark viel positiver und offener als in Deutschland. Es ist davon auszugehen, dass die breitere öffentliche Diskussion mit einer Wertschätzung der Bürgerbeteiligung entscheidend dazu beigetragen hat. Es zeigt die Notwendigkeit an, auch in Deutschland eine Diskussion zu Fragen der Priorisierung auf breiterer Basis zu beginnen.