Gesundheitswesen 2010; 72 - V264
DOI: 10.1055/s-0030-1266466

Zum Stellenwert der Mobilität für eine selbstbestimmte Alltagsgestaltung im gebrechlichen Alter sozial benachteiligter Menschen. Ergebnisse quartiersbezogener qualitativer Fallstudien

J Heusinger 1, K Kammerer 2
  • 1Institut für gerontologische Forschung e.V., Berlin
  • 2Institut für Gerontologische Forschung e.V., Berlin

Einleitung: Multimorbidität und Pflegebedarf gehen einher mit der Abhängigkeit von der Hilfe anderer und gefährden daher die Selbstbestimmung. Im Forschungsprojekt Neighbourhood (gefördert vom BMBF Kz. 01ET0706, 2008–2010) wird untersucht, mit welchen Strategien sozial benachteiligte alte, hilfe-/pflegebedürftige Menschen, die in Privathaushalten leben, ihre Autonomie zu wahren suchen. Zentrale These ist, dass für ihre Selbstbestimmungschancen die ihnen zur Verfügung stehenden ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen (Bourdieu) entscheidend sind. Methoden: In drei verschiedenen Quartieren, die aufgrund sozialstatistischer Daten als sozial benachteiligt gelten, wurden jeweils rund 20 leitfadengestützte Interviews mit alten hilfe-/pflegebedürftigen Menschen geführt und thematisch codierend ausgewertet. Ergebnisse: Für die befragten alten Menschen ist die Aufrechterhaltung der (außerhäuslichen) Mobilität eine der entscheidenden Grundlagen für Selbstbestimmung im Alltag. Sie setzen Ressourcen aller Art dafür ein: Geld für besondere Transportmittel oder bezahlte Begleitpersonen, Hilfe aus dem sozialen Netzwerk (Begleitung, Auto…) und bemühen sich im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten um hilfreiche Informationen. Auch kontinuierliches Training und die bewusste Inkaufnahme teils erheblicher Sturzrisiken gehören zu den identifizierten Strategien. Wenn die außerhäusliche Mobilität dennoch nicht aufrecht erhalten werden kann, drohen Isolation und weiter fortschreitender Mobilitätsverlust, die sich gegenseitig kumulativ verstärkend den Zugang zu anderen Hilfen behindern. Diskussion: Zwar sind Mobilitätsförderung, Sturzprophylaxe und die Ermöglichung sozialer Teilhabe bei Pflegebedürftigkeit eine originäre Aufgabe professioneller Pflege, werden jedoch in der ambulanten medizinischen und pflegerischen Versorgung in den untersuchten Quartieren nicht systematisch adressiert. Insgesamt fehlt es an Konzepten zum Erhalt und zur Förderung der Mobilität älterer Menschen, die sozialräumliche und individuell verfügbare Ressourcen sinnvoll integrieren und die Betroffenen dadurch in ihren Wünschen nach Selbstbestimmung im Alltag und beim Zugang zu weiteren Hilfen unterstützen.