Gesundheitswesen 2010; 72 - WS56
DOI: 10.1055/s-0030-1266443

„Wir produzieren Zweifel.“ Über den Einfluss der Tabakindustrie auf den Wissenschaftsbetrieb und den Wissenschaftsbegriff

D Jazbinsek 1
  • 1Presse, Berlin

Der amerikanische Medizinhistoriker Robert N. Proctor hat den Vorschlag gemacht, die Epistemologie und ihre Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis durch eine Forschungsrichtung zu ergänzen, die Agnotologie heißen könnte und der Frage nachgehen soll, warum wir etwas nicht wissen. Auch wenn uns das Nichtwissen auf den ersten Blick wie ein Urzustand erscheinen mag, der keiner weiteren Erörterung bedarf, so Proctor, kann es sich bei näherer Betrachtung als ein Artefakt erweisen, das ingenieursmäßig geplant und in industriellem Maßstab erzeugt worden ist. Sein Paradebeispiel für die Fabrikation von Nichtwissen sind die Forschungsprojekte der Tabakindustrie. Den Zigarettenherstellern ist es über Jahrzehnte hinweg gelungen, die sich mehrenden Indizien für die Gesundheitsgefahren des Aktiv- und Passivrauchens in Zweifel zu ziehen. Als das effektivste Mittel zur Destruktion von Evidenz hat sich die Vergabe von Drittmitteln an akademische Kronzeugen erwiesen. In vielen Fällen genügte der Hinweis, dass sich die Gelehrten noch nicht einig sind, um Gesetzesinitiativen zum Gesundheitsschutz zu verhindern oder zu verzögern. Die Tabakindustrie hat diese Politik der Paralyse durch Analyse nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Werbewirkungsforschung und anderen für sie relevanten Wissenschaftsdisziplinen mit Erfolg praktiziert. Ähnliche Strategien zur Erzeugung wissenschaftlicher Kontroversen sind von Branchen wie der Mineralöl- und der Alkoholindustrie angewandt worden. Anfang der 1990er Jahre setzten Versuche ein, branchenübergreifend Einfluss darauf zu nehmen, was unter „guter wissenschaftlicher Praxis“ zu verstehen ist und welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um von einer „wissenschaftlichen Tatsache“ sprechen zu können. Auch auf diesem Gebiet – dem Kampf von Unternehmen und Verbänden gegen ihrer Ansicht nach ideologisch verunreinigte Forschungsansätze („junk science“) – gehört die Tabakindustrie zu den Vorreitern. Das geht aus internen Dokumenten hervor, die die Zigarettenkonzerne aufgrund von Schadensersatzprozessen in den USA veröffentlichen mussten. Der Vortrag gibt einen Überblick über bislang vorliegende Auswertungen dieser Dokumente.