Gesundheitswesen 2010; 72 - V137
DOI: 10.1055/s-0030-1266317

„Gesundheit am seidenen Faden“ – Eine neue Belastungskonstellation in der IT-Industrie und die Notwendigkeit nachhaltiger Gesundheitsförderung

A Boes 1, T Kämpf 1, K Trinks 1
  • 1ISF München, München

Lange galt die IT-Industrie als „Eldorado“ guter Arbeit. Die Zunahme stressbedingter und psychischer Erkrankungen wie „Burn-Out“ weist jedoch darauf hin, dass gerade in dieser Branche die gesundheitlichen Risiken zugenommen haben. Unsere empirischen Untersuchungen im Rahmen des Projekts „Demographischer Wandel und Prävention in der IT-Branche“ (DIWA-IT) bestätigen diesen Trend und zeigen, dass die IT-Beschäftigten in neuer Qualität an Arbeitsbelastungen leiden. Die empirische Basis bilden zehn Intensiv-Fallstudien in den Bereichen Softwareentwicklung, IT-Beratung und IT-Dienstleistungen. Im Rahmen eines qualitativen Forschungsdesigns wurden 2008/2009 insgesamt 133 Interviews geführt. Neben 42 Expertengesprächen bilden 91 Tiefeninterviews mit IT-Beschäftigten und Führungskräften den Kern des empirischen Materials. Unsere Methode zielt auf eine differenzierte Rekonstruktion der subjektiven Sinnstrukturen der Beschäftigten. Zentrales Ergebnis unserer Untersuchungen ist, dass sich unter dem Eindruck einer „Zeitenwende“ eine neue Belastungskonstellation in der IT-Industrie herausbildet. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass unterschiedliche Belastungsfaktoren in neuer Qualität zusammenwirken und sich wechselseitig verstärken. In der Folge wird es für die Beschäftigten immer schwerer, ihren „sense of coherence“ (Antonovsky) als zentrale Ressource ihres gesundheitlichen Wohlbefindens aufrechtzuerhalten. Damit hängt die Gesundheit der Beschäftigten in weiten Teilen der IT-Industrie „am seidenen Faden“. In Bereichen, in denen die neue Belastungskonstellation ungebremst auf die Beschäftigten einwirkt, erleben sich mehr als 50% der Befragten immer wieder an der Grenze ihrer Belastbarkeit bzw. haben diese Grenze in Form eines gesundheitlichen Zusammenbruchs schon erfahren. Zwei Beschäftigtengruppen sind besonders gefährdet: einerseits Beschäftigte, die sich durch ein hohes Engagement auszeichnen und versuchen, ihren Wertvorstellungen nach qualitativ hochwertiger und nachhaltiger Arbeit weiterhin gerecht zu werden; andererseits untere und mittlere Führungskräfte. Unsere Befunde zeigen dringenden Handlungsbedarf an. Notwendig ist die Entwicklung und Umsetzung strategischer Konzepte nachhaltiger betrieblicher Gesundheitsförderung. Nicht nur der Abbau von Belastungen kann dabei im Vordergrund stehen, sondern insbesondere die Erschließung von Ressourcenpotentialen. Betriebliche Gesundheitsförderung muss dafür von einem „Thema am Rande“ zu einem zentralen Feld strategischer Unternehmensentwicklung werden.