Gesundheitswesen 2010; 72 - V80
DOI: 10.1055/s-0030-1266254

Wunsch und Wirklichkeit der Patientenorientierung am Beispiel des „informierten Patienten“

B Braun 1, G Marstedt 2
  • 1Universität Bremen – Zentrum für Sozialpolitik, Bremen
  • 2Universität Bremen, Bremen

Zu einem modernen Verständnis von gesundheitlicher Versorgung als „shared decision making“ gehören aktive PatientInnen oder „Koproduzenten“. Deren Bereitschaft und Fähigkeit, diese Rolle zu spielen beruht vor allem auf einer ausreichenden Informationsbasis und der Fähigkeit, mit diesem Wissen zu handeln. Mehr und vor allem evidente Informationen für Patienten und deren Informiertheit sind notwendige aber nicht hinreichende Voraussetzungen für eine wirksamere und wahrscheinlich auch wirtschaftlichere gesundheitliche Versorgung. Eine systematische Sichtung der dazu vorliegenden internationalen und nationalen Forschungsliteratur und die im Rahmen des „Gesundheitsmonitors“ der Bertelsmann Stiftung seit 2002 regelmäßig durchgeführte schriftliche Befragung deutscher Krankenversicherten u.a. zu ihrem Wissensstand, ihren Informationsinteressen und ihren tatsächlichen Handlungen deuten auf erhebliche, d.h. nicht nur graduelle Wissens- und Verständnislücken in nahezu allen Bereichen der gesundheitlichen Versorgung hin. Gelingt es, einen Teil der Lücken zu schließen, treten erhebliche Diskrepanzen zwischen dem nachgefragten und erworbenen Wissen, seiner aktiven Nutzung und den Handlungen von PatientInnen auf. Auf dieser empirischen Basis soll über folgende Schlussfolgerungen diskutiert werden: Erstens sollten Erwartungen an die Möglichkeit, den Umfang und die Schnelligkeit der Realisierbarkeit des „informierten Patienten“ deutlich reduziert werden. Dies betrifft auch die Wirksamkeit moderner Informationsverbreitung und -aneignung wie das Internet oder Patientenuniversitäten. Zweitens darf das Ziel eines gesundheitspolitisch sinnvoll erscheinenden aktiven Informations- und Entscheidungsverhaltens nicht in eine neue Verhaltensnorm umgewidmet werden, deren Nichteinhaltung dann über kurz oder lang sanktioniert werden könnte. Drittens darf selbst bei noch so guten und erfolgreich vermittelten Informationen die Verantwortung für das Funktionieren der Gesundheitsversorgung nicht allein oder überwiegend auf die Patienten verlagert werden. „Mehr Eigenverantwortung“ durch Informationen darf weder die Anbieter von Leistungen noch die politischen Gestalter der Versorgungsstrukturen aus ihrer Verantwortung entlassen oder von ihnen für eigenes Nichtstun oder egoistische Interessen instrumentalisiert werden.