Dtsch Med Wochenschr 1923; 49(20): 638-639
DOI: 10.1055/s-0028-1132113
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Klinische Untersuchungen über den Kalkspiegel des menschlichen Blutserums

Ernst Herzfeld, Helene Lubowski
  • Aus der III. Medizinischen Klinik der Universität in Berlin. (Direktor: Geh.-Rat Goldscheider.)
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Publication Date:
23 August 2009 (online)

Zusammenfassung

Aus dieser Uebersicht von Fällen abweichenden Verhaltens des Kalkspiegels ergibt sich, daß trotz der großen Konstanz des Kalkwertes solche Fälle doch häufiger gefunden werden, als man glaubt. Voraussetzung ist allerdings die Beobachtung an einem klinischen Material, in dem schwere Fälle die überwiegende Mehrzahl bilden, oder an dem Material großstädtischer Polikliniken, deren Besucher zum großen Teil in ihrer Konstitution und in ihrem Ernährungszustand die schweren Schädigungen des Großstadtlebens aufzuweisen haben.

Den positiven Beweis dafür, daß es sich in den erwähnten Fällen tatsächlich um pathologische Abweichungen handelte, daß also der von uns aufgestellte Wert von 11 mg% die Norm darstellt, erblicken wir in den zahlreichen Fällen, die diesen letzteren Wert aufwiesen und in denen keine ernstlichen Erkrankungen vorlagen oder wenigstens nicht solche, von denen man irgendeinen Einfluß auf den Kalkspiegel erwarten konnte. Besonders instruktiv waren auch die normalen Kalkbefunde bei den Patienten, die mehr aus Vorsicht und Aengstlichkeit sich poliklinisch untersuchen ließen, ohne daß irgendeine Erkrankung festgestellt wurde.

Wir halten uns also für berechtigt, die von uns als Abweichungen von der Norm mitgeteilten Fälle tatsächlich als pathologisch hinzustellen.

In der Kinderheilkunde ist der Kalkspiegel besonders bei Rachitis und Tetanie bereits eingehend studiert worden. Was aber die einzelnen Krankheitsgruppen bei Erwachsenen betrifft, so befinden wir uns hinsichtlich ihres Einflusses auf den Kalkspiegel (oder auch des umgekehrten Einflusses) gegenwärtig noch ganz im Anfang der Erkenntnis, was wir ausdrücklich betonen wollen. Zu den von uns notierten Abweichungen können wir aus der Literatur nur noch folgende Beobachtungen hinzufügen. Billigheimer (7) erwähnt in seiner Arbeit 8 Fälle mit herabgesetztem Kalkwert, darunter 3 Asthmatiker und 1 Astheniker, und 2 Fälle mit übernormalen Werten bei 2 vegetativ Stigmatisierten, von denen der eine in die Gruppe der Basedowoiden gehörte. Leicher registriert herabgesetzten Kalkwert bei Otosklerose, bei Tetanie der Erwachsenen, bei Morbus Basedow und erhöhten Wert in 1 Falle von Myxoedem und in 2 Fällen von Dystrophia adiposo-genitalis. Kehrer (14) gibt herabgesetzten Kalkwert bei chronischer Nephritis und bei Eklampsie an[1)]. Angesichts dieses spärlichen Materials können wir im Augenblick — vielleicht mit Ausnahme des Asthmas — noch keine Krankheitsgruppe hinsichtlich ihres Kalkspiegels als mit unbestreitbarer Sicherheit geklärt betrachten. Es bedarf dazu der Analysen einer ganzen Anzahl von Fällen mit gleicher klinischer Diagnose.

Wir haben mit unseren Untersuchungen — neben der Aufstellung des Normalwertes — eine erste klinische Uebersicht und allgemeine Orientierung über den Kalkspiegel bei den verschiedensten Erkrankungen geben wollen. Die nächste Aufgabe wäre nunmehr, die Analysen gleichartiger Fälle zu sammeln und zusammenzustellen, also die Forschungsarbeit in zahlreiche Einzelforschungen aufzulösen.

Diese Aufgabe ist teilweise bereits in Angriff genommen. O. Lubowski wird auf unsere Veranlassung demnächst über den Kalkspiegel bei Asthenie berichten, der im wesentlichen Neigung zur Herabsetzung aufweist. An derselben Klinik wird das Thema des Zusammenhanges zwischen Schilddrüsenfunktion und Kalkspiegel bearbeitet, um die Hypothese der Erniedrigung des Kalkspiegels bei Hyperfunktion und der Erhöhung desselben bei Hypofunktion (Leicher) nachzuprüfen.

Von der Asthenie, den Erkrankungen der Schilddrüse und dem Morbus Bechterew abgesehen, ergeben sich aus unserer Uebersicht zahlreiche weitere Anregungen für das Studium des Kalkspiegels bei einzelnen Krankheiten. Es kommen besonders in Frage: Neurasthenie, Herzneurosen, Tabes, Chorea und chronische Darmleiden, wo wir eine Erhöhung annehmen; anderseits Vagotonien, Ulcus ventriculi, Epilepsie, Eklampsie, Skorbut, kachektische Zustände, wo wir eine Verminderung vermuten, außerdem die von uns nicht berührte Osteomalazie.

Wir halten es für dringender, zunächst auf diese Weise rein klinisch-beobachtend vorzugehen, um erst später, auf Grund reicherer klinischer Erfahrungen, die experimentelle Beeinflußbarkeit des Serumkalkspiegels zu studieren. Gelegentlich sind auch wir bereits experimentell vorgegangen. So haben wir in Gemeinschaft mit Kretschmer den Einfluß der therapeutischen Röntgenbestrahlung bei Kindern mit Hilusdrüsentuberkulose — allerdings erst an einer kleinen Anzahl von Fällen — verfolgt und vorläufig gefunden, daß Kinder mit vorher normalem Kalkspiegel denselben auch nach der Bestrahlung behalten. Kinder mit abnorm hohem Kalkspiegel, den wir nicht etwa als Zeichen der Gesundheit, sondern als Zeichen eines trägen, krankhaft verlangsamten Stoffwechsels deuten, zeigten entsprechend der stimulierenden Wirkung der Röntgenbestrahlung eine Senkung des Kalkspiegels bis zur Norm. Die Röntgenbestrahlung vermag also Aehnliches zu leisten, was nach Stheeman (5) der Phosphorlebertran leistet: sie setzt den scheinbar übernormalen Kalkspiegel auf sein wahres Maß herab, und zwar nicht zum Schaden, sondern zum Nutzen der Kinder. Ein Fall mit abnorm niedrigem Kalkspiegel ist bisher noch nicht zur Bestrahlung gekommen.

Erst wenn der Serumkalkspiegel klinisch und experimentellpharmakologisch durchforscht ist, wird man mit Erfolg an die Frage des Mechanismus herangehen können, nach dem sich Kalkspiegel und Konstitution bzw. Krankheit gegenseitig beeinflussen. Stheeman (5) versucht schon jetzt, die kausalen Zusammenhänge zwischen klinischen Vorgängen — wie z. B. mangelhafter oder gesteigerter Adsorption des Kalks oder pathologischer Ausschwemmung aus dem Knochensystem usw. — und den grob nachweisbaren Bewegungen des Kalkspiegels aufzuklären. Den feineren Zusammenhang der Kalziumionenkonzentration mit der Konzentration der anderen Ionen im Blute versucht nach den Gesetzen der modernen Kolloidchemie György (23) darzulegen. Wir selbst möchten uns vorläufig aller kausalen oder ätiologischen Hypothesen enthalten und beschränken uns auf die kurzen Bemerkungen, die wir den einzelnen Fällen beigefügt haben.

Nur eine physiologische Erklärung scheint uns nach den Befunden von Zondek (20) und Billigheimer (7) so naheliegend, daß wir sie hier vorschlagen möchten. Nach Billigheimer bewirkt Reizung des Sympathikus durch Adrenalininjektion eine vorübergehende Senkung des Kalkspiegels. Gleichzeitig soll aber geringgradige Kalziumentziehung nach Loewi die elektrische Erregbarkeit des Vagus erhöhen. Aus der Kombination dieser beiden Tatsachen möchten wir die Vorstellung ableiten, daß normaliter die Kalziumionenkonzentration im Serum dazu dient, die Korrelation zwischen Sympathikus und Vagus zu vermitteln. Sobald der Sympathikus in starke Reizung versctzt ist, bewirkt er durch Ionenverschiebung Herabsetzung der Kalziumionenkonzentration im Serum und steigert dadurch die Erregbarkeit seines Antagonisten, sodaß dieser beim leisesten Impuls imstande ist, der übermäßigen, einseitigen Wirkung des Sympathikus seinerseits entgegenzuwirken. Auf dieser Koppelung zweier Antagonisten beruht die für den gesunden Menschen notwendige Erregungshemmung und Stabilität im vegetativen Nervensystem. Aus der Vorstellung der gegenseitigen Abhängigkeit voneinander folgt, daß im Falle einer Gleichgewichtsstörung in diesem System mit Ueberwiegen des einen oder anderen Nerven — Sympathikotonie oder Vagotonie — stets auch der andere Teil reaktiv mitbetroffen sein muß. Es läßt sich z. B. kein Sympathikotoniker denken, der nicht zeitweise vagotonische Züge aufwiese. Das stimmt mit der klinischen Beobachtung überein[1)].

Billigheimer (7) fand nach Vagusreizung durch Pilokarpininjektion Erhöhung der Blutzuckerwerte, also eine Sympathikuswirkung. Sie war noch nachweisbar, wenn die durch das Pilokarpin eventuell bewirkte Bluteindickung längst abgeklungen war. Wir möchten dies ebenfalls als eine Reaktion des Sympathikus nach Reizung seines Antagonisten auffassen, zu der er durch das Gesetz der Korrelation gezwungen wird.

1 Zondek, Petow und Siebert (24) berichten über Hypokalzämie bei schweren Funsktionsstörungen der Nieren.

1 Zondek, Petow und Siebert (24) berichten über Hypokalzämie bei schweren Funsktionsstörungen der Nieren.

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