Dtsch Med Wochenschr 1913; 39(37): 1769-1774
DOI: 10.1055/s-0028-1128720
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Die Pathologie der Herzschwäche1)

H. E. Hering in Prag-Köln 1) Referat auf dem Internationalen medizinischen Kongreß in London, 9. August 1913. (Diskussion siehe hier S. 1758.)
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Publication Date:
26 May 2009 (online)

Zusammenfassung

Die Analyse und Definition der Herzschwäche des Menschen soll vom klinischen Standpunkt ausgehen.

Der Begriff Herzschwäche ist weiter zu fassen, als es gewöhnlich geschieht. Nicht nur, wenn die Kontraktionskraft, sondern auch, wenn andere Funktionen des Herzens, z. B. die Reizbildung oder Ueberleitung, eine Schwäche erfahren haben, können wir von Herzschwäche sprechen.

Die subjektiven Symptome der Herzschwäche werden etwas vernachlässigt; kardiogene Empfindungen lassen sich zum Teil durch die mit ihnen oft einhergehende Hyperalgesie bestimmter Hautbezirke objektivieren.

Unter der Reservekraft eines lebenden Gewebes ist nichts anderes zu verstehen als die Möglichkeit, unter Umständen stärker zu funktionieren als gewöhnlich. Es gibt nicht nur Reservekräfte der Kontraktilität, sondern auch solche der Reizbildung des Herzens etc.

Bezeichnet man als ökonomische Symptome solche, die es dem Arzte ermöglichen, unter verhältnismäßig geringem Aufwand an Zeit und Arbeit rasch und sicher das Organ und seine Funktionsstörung zu erkennen, so sind als ökonomische Symptome der Herzschwäche zu bezeichnen: der Vorhof- und Kammersystolenausfall, der Kammersystolenausfall, die Dissoziation, der Irregularis perpetuus und der Herzalternans.

Liefert auch der Venenpuls wertvolle Anhaltspunkte für die Erkennung der Funktionsstörung des Herzens, so kann man doch nicht, wie man früher glaubte, aus dem positiven Venenpuls — heute Kammervenenpuls genannt — eine Trikuspidalinsuffizienz diagnostizieren.

Diejenige Dilatation des Herzens, die das Resultat einer Herzschwäche ist, läßt sich passenderweise als inkompensatorische im Gegensatz zu der nicht auf Herzschwäche beruhenden kompensatorischen Dilatation bezeichnen.

Will man unter dem Tonus des Herzmuskels die Fähigkeit verstehen, eine bestimmte Länge festzuhalten, dann hat der Tonus bei der kompensatorischen wie bei der inkompensatorischen Dilatation abgenommen, und man kann dann aus einer Hypotonie des Herzmuskels auch nicht unmittelbar einen Rückschluß auf Herzschwäche machen.

So wertvoll der Nachweis einer inkompensatorischen Herzdilatation auch ist, so ist sie an sich doch kein ökonomisches Symptom, denn zu ihrem Nachweis bedarf es noch der Feststellung gewisser Kosymptome.

Auch bei der Beobachtung eines ökonomischen Symptomes soll sich der Arzt nicht mit diesem begnügen, sondern alle auffindbaren Kosymptome mit in Betracht ziehen, sonst wird seine Beurteilung der Funktionsstörung eines Organes einseitig, wie sie es bezüglich ihres Werdens wird, wenn er vergißt, daß kein Vorgang nur durch eine Ursache allein hervorgerufen wird, sondern durch eine Pluralität von Koëffizienten.

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