Dtsch Med Wochenschr 1939; 65(13): 491-493
DOI: 10.1055/s-0028-1120424
© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Zur klinischen Pathologie der Arteriosklerose

F. Munk in Berlin
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
05. Mai 2009 (online)

Zusammenfassung

Fassen wir die aus den bisherigen allgemeinen Ausführungen über die Pathologie der Arterienveränderungen für unser klinisches Denken und Handeln maßgebenden Vorstellungen zusammen, so kommen wir zu folgenden Feststellungen:

Das heute unter dem Begriff der „Arteriosklerose” zusammengefaßte Krankheitsbild ist nach anatomischen und muß daher auch nach klinischen Gesichtspunkten eine Vielheit von Krankheiten sein.

Den verschiedenen anatomischen Prozessen entsprechen auch verschiedene Typen der Kranken in bezug auf Lebensalter, Konstitution, äußere Krankheitsursachen und Begleitsymptome.

Der Arteriosklerose der großen Arterien liegt in manchen. Fällen, namentlich denen ohne Blutdrucksteigerung (mit Ektasien), ein kolloidales Altern, die „Hysteresis” (= sekundäre Verfestigung der Kolloide) der Gefäßelemente, die „schleimige Degeneration” der pathologischen Anatomen, zugrunde. Man kann in diesen Fällen von Altersarteriosklerose, besser von einer „Arteriohysteresis” sprechen.

Die Lipoidinfiltration (lipoide Degeneration) der Intima und daher wohl auch die Hypercholesterinämie kommt nur für bestimmte; ihrem Wesen nach hisher noch nicht genau erkannte Fälle als Ausgangspunkt der „Arteriosklerose” in Betracht.

Die Mediasklerose hauptsächlich der Extremitätenarterien (periphere Sklerose) ist ein von der Arteriosklerose der intrathorakalen, intraabdominalen und Organgefäße (viszerale Sklerose) mehr oder weniger unabhängiger eigener Krankheitszustand. Dies gilt besonders auch für die unter dem Einfluß von Stoffwechselstörungen (Diabetes), Intoxikationen (Nikotin) und anderen noch unbekannten Bedingungen auftretenden endarteriitischen Prozessen an den peripheren Arterien.

Die arterielle Hypertonie bewirkt als „Anpassungszustand” an den großen Gefäßen eine Hyperplasie der Gefäßwandschichten, aus der eine Atherormatose entstehen kann, aber nicht immer entsteht. An den kleinen Arterien (Arteriolen) kommt es durch „Abnutzung” infolge Blutdruckschwankungen zu irreversiblen Zustandsänderungen der Zellkolloide, wiederum zu einer „Hysteresis”, zur „hyalinen Degeneration” bzw. ihren Vorstadien, die ihrerseits dem Kreislauf einen erhöhten Widerstand entgegensetzen. Die Blutdrucksteigerung bewirkt also einerseits eine Form von „Arteriosklerose”, anderseits wird ein dauernd hoher Blutdruck durch irreversible Gefäßveränderungen (Widerstandserhöhungen) unterhalten. Allerdings können auch andere chemische und hormonale direkte Schädigungen der Arteriolen diesen irreversiblen Zustand herbeiführen.

Die „genuine Hypertonie” bzw. ihr Folgezustand, die „Arteriolosklerose” oder besser „Hyalinosis”, ist ebenfalls eine bestimmte Form der „Arteriosklerose”, deren Sonderstellung nur klinisch in dem relativ jugendlichen Alter der Kranken, im Tempo des Krankheitsverlaufes und in der Intensität der Erscheinungen zum Ausdruck kommt. Sie ist eine akute oder subakute oder subchronische „Arteriosklerose” (im Sinne der Krankheit). Der hohe Blutdruck im höheren Alter ist demgegenüber durch eine durch allmähliche Abnutzung verursachte und — bei bestimmter Veranlagung — vorwiegend aufgetretenen Hyalinosis bedingt.

Die bisherigen Ausführungen gaben uns einen Einblick in die mannigfachen Vorgänge und Veränderungen, die im arteriellen System vor sich gehen, wenn wir bei einem Menschen Anzeichen einer „Arteriosklerose” im Leben feststellen. Es mag scheinen, als ob eine so eingehende Erörterung und Kenntnisnahme dieser Vorgänge sich nicht lohne, da eine praktische Nutzanwendung bei der Behandlung nicht in entsprechendem Verhältnis stehe. Wenn man sich auf den Standpunkt stellt, der bis heute verbreitet ist und in einem dauernden Suchen nach Arterioskleroseheilmitteln zum Ausdruck kommt, so mag dies allerdings zutreffen. Leider läßt sich ein solches Vorgehen ärztlich aber nicht rechtfertigen, weil kaum bei irgendeiner anderen Gattung von Krankheitszuständen die besonderen Gegebenheiten in Hinsicht auf innere und äußere Ursachen so verschieden sind wie bei der Gattung Kranker, die wir als Arteriosklerotiker ansprechen. Man muß zugeben, daß die verschiedenen Formen von Gefäßprozessen sehr häufig auch nebeneinander bestehen und auseinander hervorgehen können, besonders der pathologische Anatom, der mehr die Endstadien beobachtet, wird dies behaupten. Trotzdem erscheint es mir als eine dringliche Aufgabe der Klinik, zukünftig in jedem Falle von Arteriosklerose auch die Frage nach der Art und der Pathogenese der Prozesse aufzuwerfen und dadurch in den Charakter der Krankheit tiefer einzudringen. Nur durch eine sorgfältige Analyse und Berücksichtigung der bei der Entstehung der vorliegenden Gefäßveränderungen in Frage kommenden ursächlichen Gegebenheiten ist der Arzt in den Stand gesetzt, den einzelnen Krankheitsfall richtig zu beurteilen, eine Prognose zu stellen und demnach auch sein therapeutisches Handeln zweckmäßig einzurichten. Darum halte ich es für unerläßlich, daß jeder Arzt sich mit unserem bisherigen Wissen über das Wesen der Arteriosklerose vertraut macht.

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